Wie die Briten Europa beim Impfen abgehängt haben
Auf der Insel haben schon 15 Millionen Menschen mindestens eine Dosis bekommen. Das liegt an einem effizienten Gesundheitssystem – und an einer Taktik, die unter Wissenschaftlern durchaus umstritten ist
London Die ständig steigende Zahl in der oberen linken Ecke des Bildschirms hat keineswegs nur Nachrichtenwert. Sie darf auch als Ansporn für die britische Bevölkerung verstanden werden, die seit Wochen im strikten Lockdown verharrt. Der Fernsehsender Sky News präsentiert so den Impffortschritt Großbritanniens. Wie viele Menschen haben bereits die Impfung gegen das Coronavirus erhalten? Tatsächlich waren es bis Sonntag mehr als 15 Millionen Menschen, die zumindest ihre erste Dosis verabreicht bekommen haben. Das sind beinahe 29 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Die von der Regierung ausgegebene ambitionierte Zielmarke von 15 Millionen Menschen bis zum 15. Februar konnte damit sogar früher als geplant überschritten werden.
Premierminister Boris Johnson nannte es einen „Meilenstein“. Das Land habe „eine außerordentliche Leistung erbracht“. Seit dem gestrigen Montag sind alle Über-65-Jährigen als nächste Gruppe zum kurzen Piks in den Arm dran. Voller Stolz wird derzeit die Möglichkeit in Aussicht gestellt, bis Juni die gesamte erwachsene Bevölkerung mit einer ersten Dosis zu versehen. Auf der Insel, wo dank schnellerer Zulassung bereits seit dem 8. Dezember geimpft wird, verfolgt man die Strategie, den Abstand zwischen den beiden Impfungen auf zwölf Wochen zu verlängern, um trotz Impfstoffknappheit so vielen Menschen wie möglich einen gewissen Schutz zu gewähren. Die zweite Dosis zu verzögern, gilt allerdings unter Wissenschaftlern als umstritten.
Jüngste Untersuchungen geben dem Vorgehen trotzdem recht. Die Taktik rette Leben, sagte der Impfstoffexperte
Anthony Harnden von der Universität Oxford. Diese Woche sollen die von seinem Team gesammelten Daten veröffentlicht werden. Demnach haben einmalig geimpfte Menschen bereits einen hohen Schutz – beim AstraZenecaVakzin belaufe sich dieser auf rund 75 Prozent – und sowohl die Zahl der Neuansteckungen mit dem Coronavirus verringere sich „erheblich“als auch die der Todesfälle. „Darüber hinaus könnte eine verzögerte zweite Dosis besseren und längerfristigen Schutz bieten“, so Harnden, stellvertretender Vorsitzender
des britischen Gemeinsamen Ausschusses für Impfung und Immunisierung. Für die Regierung kommt das erfolgreich angelaufene Impfprogramm zu einem wichtigen Zeitpunkt, denn an der BrexitFront vergeht kaum ein Tag ohne negative Schlagzeilen. Zwar hält sich die britische Regierung mit Häme auffallend zurück. Die europaskeptische Presse aber schlachtet die Probleme in der EU voll sichtlicher Genugtuung aus und nutzt den schleppenden Impfstart auf der anderen Seite des Ärmelkanals als Werbung für den Brexit. „Boris’ doppelter Impf-Triumph über die EU“, titelte etwa die Daily Mail, nachdem Brüssel kürzlich Exportkontrollen für Corona-Impfstoffe verhängt, dann überhastet die Einführung von Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland angeordnet hat, um nach einem Aufschrei aus London und Dublin hastig zurückzurudern.
Doch die Euphorie über die vielen Impfungen hat einen Beigeschmack. Mit mehr als 117000 Toten gehört das Königreich zu den am schlimmsten von der Pandemie betroffenen Ländern der Welt. Wissenschaftler bemängeln immer wieder, dass die Politik viele Maßnahmen zu spät eingeleitet und den Lockdown sowohl im Frühjahr letzten Jahres als auch im Dezember nicht früh genug verordnet hat, insbesondere vor dem Hintergrund einer ansteckenderen Variante, die sich im Herbst in der englischen Grafschaft Kent entwickelte und Anfang des Jahres für gespenstische Infektionszahlen sorgte.
Doch auf Premier Johnson färben die schlechten Nachrichten nur bedingt ab. Seine steigenden Zustimmungswerte sind auch der Impfkampagne geschuldet. Die zentralisierte Struktur und hohe Effizienz des nationalen Gesundheitsdiensts NHS ermöglichen es, die Menschen einfach zu erreichen und den Impfstoff in kürzester Zeit zu verteilen. Man impft jeden Tag, auch an Sonnund Feiertagen, ob in Kliniken oder Hausarztpraxen, in Apotheken oder Heimen, in zu Impfzentren umfunktionierten Rugby-Stadien oder Kathedralen. Die Bürger erhalten – je nachdem, welcher Risikogruppe sie angehören – per Anruf, SMS und Brief ihre Termine. Und das Vertrauen in den NHS ist groß, dementsprechend auch die Bereitschaft, sich impfen zu lassen.