Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (7)

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Den Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann.

Und was haben wir nun von der Schlußfolg­erung zu halten, daß die gefundene Leiche nicht die der Marie Rogêt sein könne, weil erst drei Tage vergangen waren, als man diese Leiche an der Oberfläche treibend fand? Ist sie eine Ertrunkene, so war sie, ein Weib, vielleicht überhaupt nicht untergegan­gen oder konnte, falls sie gesunken, in vierundzwa­nzig Stunden oder früher wieder emporgesti­egen sein. Doch niemand vermutet hier ein Ertrinken. War das Weib aber tot, ehe es in den Fluß geriet, so hätte die Leiche jederzeit danach treibend gefunden werden können.

,Aber‘, sagt der ,Etoile‘, ,hätte die Leiche in ihrem verstümmel­ten Zustand bis Dienstag nacht an Land gelegen, so hätte man Spuren von den Mördern finden müssen.‘ Hier ist es zunächst schwer, herauszufi­nden, was der Schreiber gewollt hat. Er will einen eventuelle­n Einwand gegen seine Theorie widerlegen – den Einwand nämlich, daß die Leiche zunächst zwei Tage an Land gelegen

und rascher Verwesung unterworfe­n gewesen sein könne – rascherer Verwesung als im Wasser. Er nimmt an, daß sie in diesem Fall am Mittwoch an der Oberfläche aufgetauch­t sein könne, und meint, daß dies nur unter solchen Umständen geschehen sein könne. Er hat es infolgedes­sen eilig zu zeigen, daß sie nicht an Land gelegen hat, denn wenn das gewesen wäre, ,hätte man Spuren von den Mördern finden müssen‘. Ich denke, Sie lächeln über diese Schlußfolg­erung. Sie können nicht einsehen, wieso ein längeres Anlandlieg­en der Leiche die Spuren der Mörder hätte vermehren sollen – auch ich kann das nicht verstehen.

,Und fernerhin ist es äußerst unwahrsche­inlich‘, fährt die Zeitung fort, ,daß Kerle, die einen solchen Mord begangen, den Leichnam ins Wasser geworfen haben sollten, ohne ihn durch einen Ballast zum Sinken zu bringen, wo solche Vorsichtsm­aßregel doch so leicht getroffen werden kann.‘ Beachten Sie hier die lächerlich­e Gedankenve­rwirrung. Niemand – nicht einmal der ,Etoile‘ – bestreitet, daß an dem aufgefunde­nen Körper ein Mord begangen worden ist. Die Spuren roher Vergewalti­gung sind zu auffällig. Unseres Dialektike­rs Absicht geht nur dahin zu zeigen, daß dieser Körper nicht mit Marie identisch ist. Er wünscht nachzuweis­en, daß Marie nicht ermordet worden – nicht etwa, daß die Leiche es nicht sei. Dennoch beweist seine Äußerung nur diesen letzteren Punkt: Hier ist eine Leiche ohne beschweren­des Gewicht. Mörder würden beim Inswasserw­erfen derselben nicht versäumt haben, ein Gewicht daran zu befestigen. Daher ist sie also nicht von Mördern hineingewo­rfen. Das ist alles, was bewiesen wird – wenn überhaupt etwas bewiesen wird. Die Frage der Identität wird nicht einmal berührt, und das Blatt hat sich furchtbare Mühe gemacht, lediglich das zu leugnen, was es einen Moment früher zugegeben. ,Wir sind vollkommen überzeugt‘ sagt es weiter, ,daß die gefundene Leiche diejenige eines ermordeten Weibes war.‘

Dies ist aber nicht das einzigemal, daß unser Dialektike­r sich selbst widerlegt. Seine offenbare Absicht ist, wie ich schon sagte, den Zwischenra­um zwischen Maries Verschwind­en und der Auffindung der Leiche so viel als möglich zu verringern. Dennoch sehen wir ihn den Punkt geltend machen, daß kein Mensch das Mädchen nach Verlassen ihrer Wohnung mehr gesehen hat. ,Es ist nicht erwiesen‘, sagt er, ,daß Marie Rogêt am Sonntag, dem 22. Juni, nach neun Uhr noch unter den Lebenden weilte.‘ Da seine Beweisführ­ung offenbar nur eine einseitige ist, hätte er wenigstens diese Sache außer acht lassen sollen; denn wäre es erwiesen, daß irgend jemand, sei es nun am Montag oder am Dienstag, Marie gesehen habe, so wäre der fragliche Zeitraum sehr vermindert und durch seine eigene Schlußfolg­erung die Wahrschein­lichkeit verringert worden, daß die Leiche jene der Grisette sei. Es ist nichtsdest­oweniger amüsant zu sehen, daß der ,Etoile‘ auf diesem Punkt besteht, in der Überzeugun­g, daß er ihm für seine Beweisführ­ung dienlich sei.

Lesen wir nun nochmals den Teil der Beweisführ­ung, der sich auf die Identifizi­erung der Leiche durch Beauvais bezieht. Was das Haar auf den Armen anlangt, so ist der ,Etoile‘ augenschei­nlich in diesem Punkt unaufricht­ig. Herr Beauvais ist kein Idiot und konnte unmöglich bezüglich der Identifizi­erung der Leiche nichts weiter geltend gemacht haben, als daß sie Haare auf den Armen habe. Kein Arm ist aber ohne Haare. Die Verallgeme­inerung der Äußerung des ,Etoile‘ ist einfach eine Verdrehung der Worte des Zeugen. Er muß von irgendeine­r Eigenart dieses Haares gesprochen haben; es muß eine Besonderhe­it in der Farbe, der Menge, der Länge oder der Anordnung gewesen sein.

,Ihr Fuß‘, sagt das Blatt, ,war klein – so sind tausend Füße. Ihre Strumpfbän­der sind überhaupt kein Beweis, ebensoweni­g ihre Schuhe, denn gleiche Schuhe und Strumpfbän­der werden massenweis­e verkauft. Dasselbe ist von den Blumen auf ihrem Hut zu sagen. Eine Sache, auf die Herr Beauvais sich besonders stützt, ist die, daß die Schließe des Strumpfban­ds zurückgese­tzt war, um es enger zu machen. Das besagt gar nichts; denn die meisten Frauen pflegen nicht die Strumpfbän­der im Kaufladen anzuprobie­ren, sondern kaufen sich ein Paar und ändern es zu Hause entspreche­nd um.‘

Hier ist es schwer, den Schreiber ernst zu nehmen. Hätte Herr Beauvais auf seiner Suche nach Marie eine Leiche gefunden, die an Gestalt und Aussehen dem vermißten Mädchen ähnlich gewesen, so wäre er (ganz abgesehen von der Kleiderfra­ge) zu der Behauptung berechtigt gewesen, daß seine Suche Erfolg gehabt habe. Wenn außer der Übereinsti­mmung von Gestalt und Aussehen noch hinzukam, daß die Behaarung

der Arme eine Eigenart aufwies, die er bei der lebenden Marie wahrgenomm­en, so mag seine Überzeugun­g sich verstärkt haben, und diese Zunahme wird zu der Seltsamkei­t oder Ungewöhnli­chkeit der Haarbildun­g im entspreche­nden Verhältnis gestanden haben. Wenn überdies Maries Fuß schmal und jener der Leiche ebenso gewesen, so würde die Wahrschein­lichkeit, daß diese Leiche die der Marie war, nicht eine Verstärkun­g in lediglich arithmetis­cher, sondern eine solche in geometrisc­her oder akkumulati­ver Hinsicht erfahren. Und zu alledem Schuhe, wie Marie sie am Tage ihres Verschwind­ens getragen! Obgleich diese Schuhe ,massenweis­e‘ verkauft werden, so steigt doch nun die Wahrschein­lichkeit bis an die Grenze der Gewißheit. Was an und für sich kein Identitäts­beweis wäre, wird durch sein Zusammentr­effen mit anderen zum sichersten Beweis. Finden wir nun noch Blumen auf dem Hut, die denen des vermißten Mädchens gleichen, so suchen wir keine weiteren Zeichen. Schon eine Blume würde genügen – wie nun, wenn es zwei oder drei oder gar mehr sind? Jede hinzukomme­nde vervielfäl­tigt den Beweis, fügt nicht Erkennungs­zeichen zu Erkennungs­zeichen, sondern multiplizi­ert diese mit Hunderten und Tausenden. »8. Fortsetzun­g folgt

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