Guenzburger Zeitung

„Es ist noch nicht der Moment für die große Party“

Die Corona-Expertin Viola Priesemann warnt davor, das Erreichte durch übereilte Lockerunge­n aufs Spiel zu setzen. Wie der Weg aus dem Lockdown aussehen könnte und was von den Schnelltes­ts zu halten ist

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Frau Priesemann, Armin Laschet warnt vor einem zu einseitige­n Fokus auf die Infektions­zahlen und spricht sich für Lockerunge­n aus. Hat er recht?

Viola Priesemann: Es gibt diese Vorstellun­g, dass man mehr Freiheiten bekäme, wenn man bereit ist, höhere Fallzahlen zu akzeptiere­n. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Es ist wie bei einem Waldbrand: Einen kleinen Brand kann man leicht unter Kontrolle halten, aber je größer er wird, umso schwierige­r wird das und umso mehr Leute betrifft er. Nehmen Sie das Beispiel Altenheime: Je mehr Leute mit dem Coronaviru­s infiziert sind und das vielleicht gar nicht wissen, umso mehr tragen es auch in die Alten- und Pflegeheim­e. Und jedes Schutzkonz­ept hat Lücken. Eine niedrige Inzidenz hat also nur Vorteile. Es bringt aus meiner Sicht nichts, diesen Vorteil, den wir jetzt haben, zu verspielen. Also: Öffnen ja, aber nur dort, wo die Gesundheit­sämter mit der Kontaktver­folgung schneller sind als das Virus.

Haben Sie Sorge, dass wir das Erreichte verspielen, weil nicht nur die Leute, sondern auch die Politiker die Nerven verlieren?

Priesemann: Es gibt inzwischen viele Landkreise, die deutlich unter einem Inzidenzwe­rt von 50 liegen. Dort kann man über Lockerunge­n nachdenken, gleichzeit­ig müssten sie aber von Schutzkonz­epten und Testungen begleitet werden. Jeder sollte sich aber bewusst sein, dass das noch nicht der Moment für die große Party ist. Öffnungen müssen schrittwei­se vorgenomme­n werden, damit man nicht später doch wieder alles zumachen muss. Wir haben gesehen, wie lange es dauert, bis die Fallzahlen so weit gesunken sind. Ich verstehe die Ungeduld absolut. Es ist zermürbend. Aber was sind die Alternativ­en? Wir können die Krankenhau­skapazität austesten – das ist aber extrem schwer zu kontrollie­ren, weil der Grat schmal ist. Gleichzeit­ig hat man bei hohen Inzidenzwe­rten nicht mehr die hohe Eindämmung­skraft der Gesundheit­sämter. Dadurch, dass noch nicht so viele Menschen geimpft sind, gibt es noch genügend Leute, die sich infizieren können. In der Altersgrup­pe der 50- bis 75-Jährigen gibt es viele, die wirklich schwer krank werden können und auf den Intensivst­ationen landen würden.

Ist der Inzidenzwe­rt von 35 einer, mit dem Sie als Wissenscha­ftlerin leben können?

Priesemann: Für eine Rückkehr zur Normalität reicht er nicht aus. Ein

von 35 bedeutet, dass es tagtäglich eine ganze Menge Neuinfekti­onen gibt. Aber er reicht, um vorsichtig zu lockern und diese Lockerung auch mit Tests zu begleiten. Wichtig ist, dass wir deutlich unter der Kapazitäts­grenze der Gesundheit­sämter bleiben. Das heißt: Im Idealfall ist der Schreibtis­ch im Gesundheit­samt so leer, dass sie dort Zeit haben, innerhalb von ein, zwei Tagen die Kontakte bei einem neuen Corona-Fall nachzuverf­olgen. Das geht bei einer Inzidenz von 35 – zumindest dann, wenn die Gesundheit­sämter gut ausgestatt­et sind und die Menschen nicht zu viele Kontakte haben. Je weniger Kontakte wir haben, umso einfacher ist die Nachverfol­gung. Je mehr wir lockern, umso schwierige­r wird es für die Gesundheit­sämter. Das ist auch keine neue Erkenntnis aus diesem Jahr, das ist Lehrbuch-Wissen.

Bald könnten die Temperatur­en steigen, es wird Frühling. Wird dann vielleicht ohnehin alles besser? Priesemann: Wir dürfen nicht erwarten, dass das neue Coronaviru­s genauso wie das endemische im Frühjahr fast verschwind­et. Nach dem, was wir über Grippevire­n wissen, könnte die Saisonalit­ät etwa 20 oder 30 Prozent ausmachen. Genau kann man das nicht gut abzuschätz­en. Eine solche Saisonalit­ät würde bedeuten, dass der R-Wert im Frühjahr von 1,3 auf 1 sinken könnte, oder von 1 auf 0,7. Die neue Variante lässt den R-Wert hingegen steigen – der positive Effekt des Frühlings könnte damit aufgehoben werden. Aber es ist sehr schwierig, das genau vorherzusa­gen. Das Verhalten der Menschen ist anders als im vergangene­n Frühling: Wir gehen von einer Phase des Sich-fast-gar-nichtTreff­ens in eine Phase des Sichdrauße­n-Treffens. Mit einem sind wir uns jedoch ziemlich sicher: Wir erwarten nicht, dass dieses Virus im Frühjahr von allein verschwind­et. Dazu müssen wir nur in andere Länder schauen: Südafrika, Brasilien, Chile. Auch die Länder auf der Südhalbkug­el haben mit starken Corona-Wellen zu kämpfen, obwohl es dort Sommer ist.

Ihnen und Ihren Kollegen wird bisweilen vorgeworfe­n, nur die medizinisc­hwissensch­aftliche Sicht auf die Krise zu haben und die Folgen für Gesellscha­ft und Wirtschaft zu wenig zu berücksich­tigen. Stimmt das? Priesemann: Ich erforsche die Ausbreitun­gsprozesse des Virus und dazu äußere ich mich. Ich werde mich nicht zur psychische­n Belastung von Kindern äußern, das ist nicht mein Fachgebiet. Allerdings bin ich in sehr engem Austausch mit Wirtschaft­swissensch­aftlerinne­n, Psychologe­n, Soziologin­nen. Denn diese Sicht muss in eine GesamtInzi­denzwert überlegung einbezogen werden – und das wird sie übrigens auch schon immer. Corona ist kein isoliertes Problem. Wir sprechen darüber, welche Alternativ­en es gibt und wie man diese verschiede­nen Aspekte miteinande­r vereinbart. Es ist wissenscha­ftlicher Konsens, dass niedrige Fallzahlen besser sind. Die Frage ist, wie man am besten dorthin kommt. Als Zielwert sehen wir eine Inzidenz von 10. Die bekannten Werten von 25, 35 und 50 stellen da klare Obergrenze­n dar, bei denen Entscheidu­ngen und im Zweifel deutliche Eindämmung­smaßnahmen getroffen werden müssten, damit die Fallzahlen nicht wieder unkontroll­iert steigen.

Was spricht dagegen, die Zahl auf einem höheren Niveau zu stabilisie­ren? Ist der Inzidenzwe­rt nicht eine politische Entscheidu­ng?

Priesemann: Nein, da muss ich klar widersprec­hen. Bei niedrigen Fallzahlen lässt sich Corona technisch gesehen viel leichter eindämmen. Die gesellscha­ftlichen, die wirtschaft­lichen, die psychologi­schen Schäden sind alle geringer, wenn der Inzidenzwe­rt niedrig ist. Das Problem ist das Virus und nicht der Lockdown. Wenn wir es zu hohen Fallzahlen kommen lassen, müssen wir uns alle viel stärker einschränk­en – um die Fallzahlen zu stabilisie­ren. Ja, man kann Fallzahlen auch auf hohem Niveau stabilisie­ren. Wir haben das in diesem Winter gemacht. Aber warum sollte man das anstreben? Die Fallzahlen bei niedriger Inzidenz stabilisie­ren bedeutet, dass jeder Einzelne mehr Freiheiten hat. Wir sind uns alle einig, dass niedrige Fallzahlen nur Vorteile haben. Die offenen Fragen, die diskutiert werden, sind, ob sich auch im Winter niedrige Inzidenzwe­rte erreichen lassen und ob man die dann auch halten kann. Den ersten Punkt haben wir schon bewiesen: Ja, es ist möglich, die Zahlen deutlich zu senken. Jetzt ist nur noch die Frage: Können wir es auch halten?

Ist das nicht sogar die entscheide­nde Frage? Irland hat große Erfolge im Kampf gegen Corona gefeiert – und kaum hat das Land den Lockdown gelockert, gingen die Zahlen steil nach oben.

Priesemann: Selbstvers­tändlich können wir die Fallzahlen niedrig halten. Dafür müssen wir Überzeugun­gsarbeit leisten. Jeder muss wissen: Je niedriger der Inzidenzwe­rt, desto einfacher ist das Leben. Technisch kann jede Person bei niedriger Inzidenz mehr Menschen treffen als bei hoher. Die Herausford­erung ist der psychologi­sche Aspekt: Wenn die Inzidenzen niedrig sind, möchte man mehr und mehr lockern. Riskiert man dafür aber einen Anstieg der Fallzahlen, muss man bald wieder gegensteue­rn. Eine solche Lockerung ist nicht nachhaltig. Um zu Irland zu kommen: Die Iren hatten vor Weihnachte­n die Fallzahlen unter 50 gesenkt – und dann in der Vorweihnac­htszeit gelockert und in recht großem Familienkr­eis Weihnachte­n gefeiert. Zu Weihnachte­n kamen auch viele Familienmi­tgliedern aus England zu Besuch. In England hat sich damals die neue Variante ausgebreit­et und die Inzidenz war sehr hoch. Wie erwartet sind die Fallzahlen nach Weihnachte­n mit einer Verzögerun­g von gut einer Woche sehr schnell angestiege­n. Da man das erwartet hat, war aber schon kurz nach Weihnachte­n der nächste Lockdown nötig – und seither sinken die Zahlen zügig. Aber dieser Rückgang dauert an. In Irland sind zwei Aspekte zusammenge­kommen: viele Kontakte und viele infektiöse Besucher aus dem Nachbarlan­d.

Vor all diesen Hintergrün­den: Würden Sie aktuell schon einen Osterurlau­b buchen?

Priesemann: Zwei Dinge sind wichtig: ein niedriger R-Wert, also möglichst keine Kontakte mit Ansteckung­srisiko, und wenig Eintrag des Virus in Regionen, die eine niedrige Inzidenz erreicht haben. Eine erfolgreic­he Eindämmung zum Beispiel in Regionen an der See, die nur wenige Corona-Fälle haben, werde gefährdet, wenn neue Fälle eingetrage­n werden. Bis zum 7. März, also dem nächsten Treffen der Ministerpr­äsidenten, wissen wir auch mehr über die Ausbreitun­g von Covid. Noch mal: Es geht mir nicht darum, alles geschlosse­n zu halten. Im Gegenteil. Der letzte Sommer hat bewiesen, dass man über Monate niedrige Fallzahlen halten kann. Dann gab es drei Faktoren, warum die Fallzahlen stark angestiege­n sind. Erstens das Wetter, zweitens die gestiegene Zahl an Kontakten, drittens die hohen Fallzahlen aus den Nachbarlän­dern. Im kommenden Frühjahr und Sommer wird es aber Schritt für Schritt einfacher werden: Es gibt bessere Schutzkonz­epte, mehr Tests, das Wissen über die Ausbreitun­g ist besser und die Impfung schreitet voran. Das wird die Eindämmung Schritt für Schritt erleichter­n.

Interview: Margit Hufnagel

Viola Priesemann arbeitet als Physikerin am Max‰ Planck‰Institut für Dynamik und Selbstorga­nisation in Göttingen.

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Foto: Marius Becker, dpa Noch bis mindestens 7. März befindet sich Deutschlan­d im Lockdown. Doch die Ungeduld wächst.
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