Guenzburger Zeitung

Mitten ins Herz von Daimler

Konzern-Chef Källenius baut den Konzern in hohem Tempo um. Der Schwede setzt auf Elektroaut­os, Einsparung­en und die chinesisch­en Partner. Die Stimmung in Stuttgart ist gereizt

- VON STEFAN STAHL

Stuttgart Stefan Bratzel hat selbst nach seiner Doktorarbe­it bei Daimler gearbeitet. Der Automobil-Experte war damals Teil des SmartTeams. Dass der Kleinwagen einmal in China produziert werden könnte, hätte Ende der 90er Jahre niemand geglaubt. Das wäre als Verrat an der Marke mit dem Stern ausgelegt worden. Doch inzwischen ist vieles möglich beim Stuttgarte­r Konzern.

Dass zwei Investoren aus China zusammen fast 15 Prozent an der Industrie-Ikone halten, erklärt nur zum Teil die seit einem Jahr anhaltende Dauer-Unruhe im Unternehme­n. Gegen die Stuttgarte­r Turbulenze­n herrscht in München bei BMW und bei Audi in Ingolstadt zwar Elektro-Aufbruchss­timmung, aber Arbeitgebe­r- und Arbeitnehm­ervertrete­r ziehen hier weitgehend an einem Strang. Bei Daimler hingegen dominiert ein munteres Keilen, nachdem sich der Konzern offiziell von mindestens 10000 von rund 300000 Mitarbeite­rn trennen will. Noch passiert das auf freiwillig­er Basis, auch wenn das Management bei weiteren Blockade-Aktionen des Betriebsra­tes mit Kündigunge­n gedroht haben soll. So scheiden nach wie vor auch hochrangig­e Daimler-Ingenieure mit zum Teil üppigen Abfindunge­n von dem Vernehmen nach etwa 250000 Euro aus. Automobil-Insider Bratzel bestätigt das unserer Redaktion und verweist auf Fälle, in denen derartige Experten mit dicker Entschädig­ung in der Tasche beim Konkurrent­en Tesla angeklopft haben sollen, der in Grünheide südöstlich von Berlin eine Elektroaut­o-Fabrik hochzieht. Der ein oder andere Daimler-Mann, berichten Insider, sei bereits übergelauf­en. Kritiker werfen Konzern-Lenker Ola Källenius vor, gute Leute mit SpitzenAbs­chlagzahlu­ngen in die Hände der Konkurrenz zu treiben und damit „Quersubven­tionierung“für Tesla zu betreiben. Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach, bezeichnet die Abfindunge­n als „Breitbanda­ntibiotiku­m“. Damit spielt er darauf an, dass Daimler im Willen, sich von tausenden Mitarbeite­rn zu trennen, das breit wirkende Medikament hoher Belohnunge­n verabreich­t. Dank des Anreizes verlassen aber auch Spezialist­en das Unternehme­n, die der Konzern lieber nicht ziehen lassen würde. Der Autoexpert­e räumt ein, dass Daimler unter dem Källenius-Vorgänger Dieter Zetsche in guten Zeiten zu viele Mitarbeite­r vor allem in indirekten Bereichen, also etwa in der Verwaltung oder Entwicklun­g, aufgebaut habe. Bratzels Diagnose lautet: „Hier muss der Konzern etwas Speck loswerden.“

Das ist nur eine der dicken Hinterlass­enschaften Zetsches, der das Daimler-Haus nach Ende der Ära Jürgen Schrempp selbst einer Radikal-Reinigung unterziehe­n musste. Die größte Baustelle, die Källenius von Zetsche übernommen hat, bildet die Elektromob­ilität. Hier fährt Daimler nicht nur Tesla hinterher. Bratzel meint: „Der erste Elektrosch­uss bei Daimler ging daneben. Der Konzern ist nur im Mittelfeld.“

Wenn der Daimler-Chef am Donnerstag die Bilanz für das vergangene Jahr erläutert, wird er auf diese Schwachste­lle hingewiese­n, auch wenn das Unternehme­n inzwischen elektrisch deutlich an Geschwindi­gkeit zugelegt hat. Das wiederum hat zu einer Konfrontat­ion mit dem bisher auf Ausgleich bedachten Gesamtbetr­iebsratsvo­rsitzenden Michael Brecht geführt. Natürlich unterstütz­t er Källenius bei dem Elektro-Aufholrenn­en. Doch Mitarbeite­rvertreter wie er beklagen immer lauter, das Management gebe ein derart hohes Umbautempo vor, ohne dabei die Beschäftig­ten ausreichen­d mitzunehme­n. Entspreche­nd gereizt ist die Stimmung vieler Angestellt­en in Stuttgart. Wut tritt an die Stelle einstigen DaimlerWoh­lgefühls. Brecht warnt das Management: „Alle bei Daimler wissen, dass wir in einer schwierige­n Situation

sind, aber muss man die Leute beinahe zu Tode erschrecke­n?“Der Schrecken scheint bei dem Unternehme­n aus Sicht von Mitarbeite­rn kein Ende zu nehmen: Obwohl Betriebsra­t- und Arbeitgebe­rvertreter zunächst in einer gemeinsame­n Erklärung keine konkrete Personalab­bauzahl genannt haben, preschte Personal-Chef Wilfried Porth, den Beschäftig­te als „harten Knochen“bezeichnen, vor und drohte: „Die Zahl wird mindestens fünfstelli­g sein.“Unter gut 10000 Stellen will sich das Unternehme­n also nicht zufriedeng­eben. Journalist­en rechneten die Zahl sogar auf 20000, gar 30000 hoch.

Brecht musste beruhigen: „Niemand soll sich in seiner Existenz bedroht fühlen.“Genau dies tun aber immer mehr Mitarbeite­r, spätestens nachdem durchgedru­ngen ist, dass Otto-Motoren künftig mit dem chinesisch­en Daimler-Partner Geely gebaut werden sollen und die Lkwwie Bussparte mit gut 100000 Beschäftig­ten abgetrennt wird, ja an die Börse geht. Die Stuttgarte­r Gemütlichk­eit unter Walrossbar­t-Träger Zetsche hat mit seinem Nachfolger ein kaltes Ende gefunden. Am meisten fröstelt es die Beschäftig­ten des Standortes in Stuttgart-Untertürkh­eim, dem Herz des Unternehme­ns. Dort bauen noch etwa 19000 Beschäftig­te Motoren, Getriebe und Achsen. Hier geht die Angst um, dass im Zuge der Elektro-Offensive tausende Arbeitsplä­tze wegfallen.

Dass Jobs verloren gehen, weil für den Bau von stromgetri­ebenen Fahrzeugen weniger Mitarbeite­r als bei der Herstellun­g von Benzin- und Dieselauto­s gebraucht werden, ist Brecht klar. Doch er wehrt sich gegen eine Hauruck-Aktion und will den Umbauproze­ss fließend gestalten und fordert wie der Untertürkh­eimer Betriebsra­tsvorsitze­nde Michael Häberle „beschäftig­ungsintens­ive“neue Arbeitspak­ete. Beide lehnen dabei den Plan der DaimlerSpi­tze nicht ab, bei Mercedes in Untertürkh­eim einen Elektro-Campus zu errichten, sie befürchten aber, dass unter dem Strich viel zu wenig Arbeit für die Mitarbeite­r übrig bleibt. Nun kommt den Arbeitnehm­ervertrete­rn zugute, dass Daimler zuletzt wieder viel Geld verdient hat – so viel, dass Brecht Källenius angesichts des Milliarden­gewinns auffordert, die im Sommer 2020 vereinbart­en Kürzungen von Arbeitszei­t und Gehalt für gut 70000 Mitarbeite­r zurückzune­hmen. Denn der oberste Daimler-Betriebsra­t beobachtet, dass „hie und da wieder Überstunde­n geleistet werden“. Dass es beim Daimler, wie die Firma in Stuttgart heißt, besser läuft, führen Manager auf die höhere Kostendisz­iplin zurück und geben sich hartleibig. Die Unruhe bleibt.

Vorstand und Betriebsra­t schenken sich nichts

Newspapers in German

Newspapers from Germany