So schwierig ist sexueller Missbrauch aufzuklären
Ein Mann soll seine Stieftochter vergewaltigt haben. Er streitet alles ab. Wie so oft in diesen Fällen gibt es keine Zeugen. Der Prozess zieht sich über mehrere Tage. Auch das ungewöhnliche Verhalten des mutmaßlichen Opfers wird zum Streitpunkt
Ingolstadt Es ist eines dieser Verbrechen, bei dem die Gesellschaft die Täter unbedingt hinter Gittern sehen will. Und gleichzeitig ist es bei kaum einem anderen Delikt so schwierig, ein Urteil anhand wasserdichter Beweise zu fällen. Zumindest, wenn es keine DNA-Spuren gibt. Die Rede ist von sexuellem Missbrauch an Kindern. Dieser geschieht meist im Verborgenen, im unmittelbaren Umfeld des Opfers, ohne Einsicht von außen. Das heißt, es gibt keine weiteren Zeugen, die das, was geschehen sein soll, bestätigen könnten. Aussage steht gegen Aussage. Ein solcher Fall wurde nun über sechs Prozesstage hinweg am Ingolstädter Landgericht verhandelt. Er zeigt, welch wichtige Rolle Gutachter dabei spielen und wie das Verhalten eines Mädchens, das nicht so recht zu einem traumatisierten Opfer passen will, zum Gegenstand der Verhandlung werden kann.
Die Geschichte an sich ist leider nicht außergewöhnlich, sondern eher ein Musterfall für solche Verbrechen. Ein 46-Jähriger soll seine damalige Stieftochter mehrmals schwer sexuell missbraucht haben, als diese zehn bis zwölf Jahre alt war. Auch Vergewaltigung beziehungsweise der Versuch steht im Raum. Das Besondere an dem Fall ist, dass die Öffentlichkeit nicht von der Verhandlung ausgeschlossen wurde, wie es in der Regel bei solchen Delikten aus Gründen des Opferschutzes getan wird. Und: das Mädchen selbst. Als Nebenklägerin sitzt sie an jedem Verhandlungstag im Gerichtssaal. Schräg gegenüber, nur wenige Meter entfernt, ihr einstiger Stiefvater, der sich mehr als ein Jahr lang immer wieder an ihr vergangen haben soll. Sich, während sie sich schlafend stellte, über sie hergemacht haben soll, wie die heute 15-Jährige vor Gericht aussagt. Sie schildert stockend, wie der Ex-Freund ihrer Mutter die knarzende „Hühnerleiter“zu ihrem Zimmer unter dem Dachboden hochgeklettert sei und sie angefasst habe, ohne dass es irgendjemand bemerkt habe.
Der Angeklagte streitet alles ab, obwohl der Vorsitzende Richter ihm klarmacht, dass die Beweislage für ihn nicht günstig sei und er sich als Ersttäter durch ein Geständnis wenigstens ein Jahr Haft ersparen könnte. Doch ist die Situation für den Beschuldigten tatsächlich so schlecht? Die Zeugen können kein Licht ins Dunkel bringen. Denn keiwar bei den Übergriffen dabei. Keiner kann von einem auffälligen Verhalten des Angeklagten erzählen. Oder von einer Neigung zu deutlich jüngeren Freundinnen. Sie wissen nur das, was das Mädchen ihnen offenbart hat. Und, dass es der Jugendlichen etwa seit Frühjahr 2017 – ob nicht auch schon vorher, ist unklar – psychisch schlecht geht, sie sich ritzt und in Therapie ist.
Das psychiatrische Gutachten belastet den 46-Jährigen ebenfalls nicht zwingend. Die Fachärztin schätzt den Angeklagten nicht als pädophil ein. Wenn, dann seien die Übergriffe auf ein inzestuöses Verhalten zurückzuführen, erklärt sie: Der Beschuldigte habe versucht, seine Beziehungsprobleme mit der Mutter des Mädchens durch körperliche Nähe zur Stieftochter zu bewältigen.
Das aussagepsychologische Gutachten bietet dem Gericht schon mehr Anhaltspunkte zur Urteilsfindung: Die Gutachterin schätzt die Erzählungen des Mädchens als erlebnisbasiert, also als wahr, ein. Die Schilderungen seien logisch, inhalteine lich konsistent und angemessen detailreich, urteilt die Expertin. Und obgleich ein Kinder- und Jugendpsychiater bei dem Mädchen 2017 eine emotionale Störung mit Geschwisterrivalität sowie eine mittelschwere Depression diagnostiziert hat, sieht die Psychologin darin die Qualität ihrer Aussage nicht beeinträchtigt. Auch habe das Mädchen keine Motivation gezeigt, den ExStiefvater übermäßig zu belasten.
Die Verteidigerin des 46-Jährigen will das psychologische Gutachten aber nicht kommentarlos stehen lassen. Es weise erhebliche Mängel auf, sagt sie. Einiges sei nicht genau genug untersucht worden, zum Beispiel, ob das Mädchen die Geschichte anhand einer Fernsehserie konstruiert habe. Die Anwältin fordert ein neues Gutachten. Diesen Antrag lehnt das Gericht jedoch ab.
Schließlich wirft die Verteidigerin noch die Frage auf, ob sich ein Opfer von sexuellem Missbrauch freiwillig der Öffentlichkeit und seinem Vergewaltiger stellen würde. Würde es in den Pausen des Prozesses mit der Freundin lachen und auf dem Handy herumspielen, wie es die 15-Jährige getan hat? Das wiederum kann der Nebenklagevertreter nicht auf seiner Mandantin sitzen lassen und so unner terstellt er der Verteidigerin, dass sie nur die Glaubwürdigkeit des Mädchens in Zweifel ziehen wolle – das Wichtigste in einem solchen Prozess. Sich mit dem Täter zu konfrontieren, anstatt sich „schambehaftet“zurückzuziehen, könne auch dazu dienen, das Erlebte zu bewältigen und anderen Leidtragenden eine Stimme zu geben, erklärt der Anwalt das Verhalten seiner Mandantin.
Es bleibt undurchsichtig bis zum Schluss. Trotzdem muss die Jugendkammer nach vier Wochen zu einem Urteil kommen. Die Staatsanwaltschaft stützt sich in ihrem Plädoyer vor allem auf das psychologische Gutachten. Sie hält das Mädchen für voll glaubwürdig, den Angeklagten für schuldig. Die Verteidigung setzt vor allem auf den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“. Es gebe zu viele Widersprüche in den Schilderungen der 15-Jährigen, sagt die Verteidigerin und fordert einen Freispruch. Das Gericht verurteilt den 46-Jährigen zu acht Jahren Gefängnis, der Vorsitzende Richter spricht sogar von einem „glasklaren Fall“. Zudem muss der Angeklagte 21000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Verteidigerin hat angekündigt, Revision einlegen zu wollen.
Psychologin schätzt Mädchen als glaubwürdig ein