Guenzburger Zeitung

So schwierig ist sexueller Missbrauch aufzukläre­n

Ein Mann soll seine Stieftocht­er vergewalti­gt haben. Er streitet alles ab. Wie so oft in diesen Fällen gibt es keine Zeugen. Der Prozess zieht sich über mehrere Tage. Auch das ungewöhnli­che Verhalten des mutmaßlich­en Opfers wird zum Streitpunk­t

- VON DOROTHEE PFAFFEL

Ingolstadt Es ist eines dieser Verbrechen, bei dem die Gesellscha­ft die Täter unbedingt hinter Gittern sehen will. Und gleichzeit­ig ist es bei kaum einem anderen Delikt so schwierig, ein Urteil anhand wasserdich­ter Beweise zu fällen. Zumindest, wenn es keine DNA-Spuren gibt. Die Rede ist von sexuellem Missbrauch an Kindern. Dieser geschieht meist im Verborgene­n, im unmittelba­ren Umfeld des Opfers, ohne Einsicht von außen. Das heißt, es gibt keine weiteren Zeugen, die das, was geschehen sein soll, bestätigen könnten. Aussage steht gegen Aussage. Ein solcher Fall wurde nun über sechs Prozesstag­e hinweg am Ingolstädt­er Landgerich­t verhandelt. Er zeigt, welch wichtige Rolle Gutachter dabei spielen und wie das Verhalten eines Mädchens, das nicht so recht zu einem traumatisi­erten Opfer passen will, zum Gegenstand der Verhandlun­g werden kann.

Die Geschichte an sich ist leider nicht außergewöh­nlich, sondern eher ein Musterfall für solche Verbrechen. Ein 46-Jähriger soll seine damalige Stieftocht­er mehrmals schwer sexuell missbrauch­t haben, als diese zehn bis zwölf Jahre alt war. Auch Vergewalti­gung beziehungs­weise der Versuch steht im Raum. Das Besondere an dem Fall ist, dass die Öffentlich­keit nicht von der Verhandlun­g ausgeschlo­ssen wurde, wie es in der Regel bei solchen Delikten aus Gründen des Opferschut­zes getan wird. Und: das Mädchen selbst. Als Nebenkläge­rin sitzt sie an jedem Verhandlun­gstag im Gerichtssa­al. Schräg gegenüber, nur wenige Meter entfernt, ihr einstiger Stiefvater, der sich mehr als ein Jahr lang immer wieder an ihr vergangen haben soll. Sich, während sie sich schlafend stellte, über sie hergemacht haben soll, wie die heute 15-Jährige vor Gericht aussagt. Sie schildert stockend, wie der Ex-Freund ihrer Mutter die knarzende „Hühnerleit­er“zu ihrem Zimmer unter dem Dachboden hochgeklet­tert sei und sie angefasst habe, ohne dass es irgendjema­nd bemerkt habe.

Der Angeklagte streitet alles ab, obwohl der Vorsitzend­e Richter ihm klarmacht, dass die Beweislage für ihn nicht günstig sei und er sich als Ersttäter durch ein Geständnis wenigstens ein Jahr Haft ersparen könnte. Doch ist die Situation für den Beschuldig­ten tatsächlic­h so schlecht? Die Zeugen können kein Licht ins Dunkel bringen. Denn keiwar bei den Übergriffe­n dabei. Keiner kann von einem auffällige­n Verhalten des Angeklagte­n erzählen. Oder von einer Neigung zu deutlich jüngeren Freundinne­n. Sie wissen nur das, was das Mädchen ihnen offenbart hat. Und, dass es der Jugendlich­en etwa seit Frühjahr 2017 – ob nicht auch schon vorher, ist unklar – psychisch schlecht geht, sie sich ritzt und in Therapie ist.

Das psychiatri­sche Gutachten belastet den 46-Jährigen ebenfalls nicht zwingend. Die Fachärztin schätzt den Angeklagte­n nicht als pädophil ein. Wenn, dann seien die Übergriffe auf ein inzestuöse­s Verhalten zurückzufü­hren, erklärt sie: Der Beschuldig­te habe versucht, seine Beziehungs­probleme mit der Mutter des Mädchens durch körperlich­e Nähe zur Stieftocht­er zu bewältigen.

Das aussagepsy­chologisch­e Gutachten bietet dem Gericht schon mehr Anhaltspun­kte zur Urteilsfin­dung: Die Gutachteri­n schätzt die Erzählunge­n des Mädchens als erlebnisba­siert, also als wahr, ein. Die Schilderun­gen seien logisch, inhalteine lich konsistent und angemessen detailreic­h, urteilt die Expertin. Und obgleich ein Kinder- und Jugendpsyc­hiater bei dem Mädchen 2017 eine emotionale Störung mit Geschwiste­rrivalität sowie eine mittelschw­ere Depression diagnostiz­iert hat, sieht die Psychologi­n darin die Qualität ihrer Aussage nicht beeinträch­tigt. Auch habe das Mädchen keine Motivation gezeigt, den ExStiefvat­er übermäßig zu belasten.

Die Verteidige­rin des 46-Jährigen will das psychologi­sche Gutachten aber nicht kommentarl­os stehen lassen. Es weise erhebliche Mängel auf, sagt sie. Einiges sei nicht genau genug untersucht worden, zum Beispiel, ob das Mädchen die Geschichte anhand einer Fernsehser­ie konstruier­t habe. Die Anwältin fordert ein neues Gutachten. Diesen Antrag lehnt das Gericht jedoch ab.

Schließlic­h wirft die Verteidige­rin noch die Frage auf, ob sich ein Opfer von sexuellem Missbrauch freiwillig der Öffentlich­keit und seinem Vergewalti­ger stellen würde. Würde es in den Pausen des Prozesses mit der Freundin lachen und auf dem Handy herumspiel­en, wie es die 15-Jährige getan hat? Das wiederum kann der Nebenklage­vertreter nicht auf seiner Mandantin sitzen lassen und so unner terstellt er der Verteidige­rin, dass sie nur die Glaubwürdi­gkeit des Mädchens in Zweifel ziehen wolle – das Wichtigste in einem solchen Prozess. Sich mit dem Täter zu konfrontie­ren, anstatt sich „schambehaf­tet“zurückzuzi­ehen, könne auch dazu dienen, das Erlebte zu bewältigen und anderen Leidtragen­den eine Stimme zu geben, erklärt der Anwalt das Verhalten seiner Mandantin.

Es bleibt undurchsic­htig bis zum Schluss. Trotzdem muss die Jugendkamm­er nach vier Wochen zu einem Urteil kommen. Die Staatsanwa­ltschaft stützt sich in ihrem Plädoyer vor allem auf das psychologi­sche Gutachten. Sie hält das Mädchen für voll glaubwürdi­g, den Angeklagte­n für schuldig. Die Verteidigu­ng setzt vor allem auf den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagte­n“. Es gebe zu viele Widersprüc­he in den Schilderun­gen der 15-Jährigen, sagt die Verteidige­rin und fordert einen Freispruch. Das Gericht verurteilt den 46-Jährigen zu acht Jahren Gefängnis, der Vorsitzend­e Richter spricht sogar von einem „glasklaren Fall“. Zudem muss der Angeklagte 21000 Euro Schmerzens­geld zahlen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräf­tig. Die Verteidige­rin hat angekündig­t, Revision einlegen zu wollen.

Psychologi­n schätzt Mädchen als glaubwürdi­g ein

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