Brüssel nimmt Deutschland gleich doppelt ins Visier
Die EU-Kommission wirft Deutschland seit Jahren eine schleppende Umsetzung von Naturschutzzielen vor. Jetzt ist den Entscheidern der Kragen geplatzt: Es wird geklagt. Auf den Bund kommt noch ein weiteres Verfahren zu
Brüssel Seit Jahren folgte eine Mahnung auf die andere, jetzt ist den Entscheidern in Brüssel der Kragen geplatzt: Die EU-Kommission verklagt Deutschland wegen jahrelanger Verstöße gegen geltendes Naturschutzrecht vor dem Europäischen Gerichtshof. Ein Schlag, der für die Bundesrepublik teuer werden könnte. Und es ist nicht die einzige juristische Attacke aus Brüssel: Die EU strengt auch ein Vertragsverletzungsverfahren an, weil Deutschland die seit 2004 geltenden Regeln beim Europäischen Haftbefehl nicht umsetze.
Die Naturschutz-Klage ist der vorläufige Höhepunkt einer seit langem schwelenden Auseinandersetzung: Die Brüsseler Behörde wirft Deutschland vor, zum Teil seit mehr als zehn Jahren vorgeschriebene und zugesagte Maßnahmen zur Förderung der Biodiversität nicht umzusetzen. Konkret geht es um die EU-Regeln zur Erhaltung natürlicher Lebensräume sowie zum Schutz wild lebender Tiere und Pflanzen. Kern ist die Ausweisung von Schutzgebieten, vor allem der sogenannten FFH-Gebiete (FloraFauna-Habitat). Demnach müssen die EU-Staaten bestimmte Naturflächen von hoher Bedeutung als besondere Schutzgebiete ausweisen. Dazu gehört die Festlegung von Erhaltungszielen, um den Bestand von Arten zu schützen oder wiederherzustellen. Die EU-Kommission bemängelt, dass Deutschland „eine bedeutende Anzahl von Gebieten immer noch nicht als besondere Schutzgebiete ausgewiesen“und für seine 4606 Areale keine ausreichenden Ziele festgelegt habe.
2015 leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren ein – betroffen sind alle 16 Bundesländer betroffen und der Bund selbst mit acht FFH-Gebieten in der Nord- und Ostsee. Weil die Bundesrepublik die Bedenken der EU-Behörde bis heute nicht ausgeräumt habe, kommt es nun zur Klage vor dem Europäischen Gerichtshof.
Das Bundesumweltministerium von Svenja Schulze (SPD) bestätigte, dass „die Klageeinreichung mit genauen Einzelheiten“in den nächsten Wochen oder Monaten erwartet werde. Die Bundesregierung werde diese eingehend prüfen und sich eng mit den Bundesländern abstimmen, die für „die weitaus meisten FFHGebiete“
zuständig seien. „Bezüglich eines Teils der Vorwürfe“seien in den vergangenen Jahren „erhebliche Fortschritte“gemacht worden, betonte das Ministerium. So seien inzwischen 98 Prozent aller FFHGebiete rechtlich gesichert, also offiziell ausgewiesen sind, und für 84 Prozent die nötigen Erhaltungsmaßnahmen festgelegt. „Rechtlich gesichert“heißt, dass die Gebiete gemäß der EU-Richtlinie als Schutzgebiete ausgewiesen sind. Bei den Erhaltungszielen aber gibt es einen grundlegenden Dissens. Die Vorgaben seien „aus Sicht der Länder rechtlich zu weitgehend. Dem hat sich der Bund angeschlossen“, so das Ministerium. Die Umsetzung würde einen „immensen finanziellen und verwaltungstechnischen Aufwand bedeuten“und sich „vermutlich über viele Jahre hinziehen“.
Eine Haltung, die die Opposition deutlich kritisiert. „Die Klage der EU-Kommission entlarvt die deutsche Schaufenster-Umweltpolitik“, sagte der stellvertretende FDPFraktionsvorsitzende, Frank Sitta. Das Verhalten der Regierung lasse „entweder auf dreiste Überheblichkeit oder schlichte Ahnungslosigkeit des Umweltressorts schließen“. Mehrere Abgeordnete der FDP hatten per Bundestagsanfrage nachgehakt, die Regierung zunächst weitgehend auf Vertraulichkeit des Verfahrens verwiesen. Wie es hieß, waren im Herbst noch 88 FFH-Gebiete noch nicht „rechtlich gesichert“– alle in Niedersachsen. Inzwischen seien es noch 33. Empört reagierten Umweltverbände. Es sei ein „Armutszeugnis, Bund und Länder verklagen zu müssen, um die Verträge einzuhalten“, sagte der Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz, Olaf Bandt.
Am Donnerstag teilte die EUKommission außerdem mit, dass sie Vertragsverletzungsverfahren zum Thema Europäischer Haftbehel angestrengt habe – gegen Deutschland sowie auch gegen Schweden und Zypern. Verlangt wird die Einhaltung der 2004 neu vereinbarten Haftbefehls-Regeln, die lange Auslieferungsverfahren ersetzen sollen. Deutschland bevorzuge aber in der Praxis eigene Bürger gegenüber EU-Bürgern, kritisiert die Kommission. Auch in diesem Fall könnte am Ende eine Klage stehen. Fatima Abbas und Michel Winde, dpa