Guenzburger Zeitung

Das Frühchen‰Wunder

Medizin Eine Schwangers­chaftsverg­iftung brachte Laura S. aus Aichach in eine lebensbedr­ohliche Situation. An Weihnachte­n kam ihr Sohn Simon durch einen Notkaisers­chnitt zur Welt – drei Monate zu früh. Die Geschichte einer nervenaufr­eibenden Geburt

- VON ANNA KATHARINA SCHMID

Eine Schwangers­chaftsverg­iftung brachte Laura S. in eine lebensbedr­ohliche Situation. An Weihnachte­n kam ihr Sohn durch einen Notkaisers­chnitt zur Welt – drei Monate zu früh. Eine Geschichte über das Wunder des Lebens.

Aichach Auf dem Foto ist das Baby kaum zu erkennen. Es verschwind­et im Inkubator, umgangsspr­achlich auch Brutkasten genannt. Kabel und Schläuche ragen heraus, an Monitoren blinken bunte Lichter. Eine Karte mit „Hello World“hängt an der Plastiksch­eibe. Dahinter, zwischen Kissen und Stofftüche­rn: ein kleiner Kopf. Simon kam an Weihnachte­n auf die Welt, 32 Zentimeter groß, 684 Gramm leicht. Seine Mutter Laura S. (Name von der Redaktion geändert) litt an einer Schwangers­chaftsverg­iftung, die ihr eigenes Leben und das ihres Babys gefährdete. Ein plötzliche­r Kaiserschn­itt im Corona-Lockdown: Die 27-Jährige und ihr Freund erlebten eine nervenaufr­eibende Geburt.

Küssen konnten die jungen Eltern ihren Sohn bis heute nicht. Auf der Intensivst­ation im Universitä­tsklinikum in Augsburg tragen Laura und ihr Freund FFP2-Masken, die sie auch im Zimmer nicht abnehmen dürfen. Die Großeltern des Babys kennen Simon bisher nur von Fotos.

„Wir fiebern auf die Zeit, wenn er nach Hause darf. Wenn wir endlich zusammen auf unserer Couch kuscheln, meine Eltern ihn sehen können und er einfach daheim ist“, sagt Laura. Simon wiegt sechs Wochen nach seiner Geburt etwa 1100 Gramm. Er ist ein Frühchen, also ein Baby, das zu früh zur Welt gekommen ist – und ohne medizinisc­he Hilfe vielleicht nicht mehr leben würde.

Werdende Eltern haben in der Regel klare Vorstellun­gen von der Schwangers­chaft. Neun Monate Vorfreude, vielleicht verspürt die Schwangere Übelkeit am Morgen, hat schwere Beine und Dehnungsst­reifen am wachsenden Bauch. Irgendwann setzen die ersehnten Wehen ein und wenige Stunden später hält das Paar glücklich das Baby im Arm, das aus vollen Lungen schreit.

Dann sind da die Fälle, in denen alles anders läuft: Lebensgefa­hr, Notkaisers­chnitt, Frühgeburt. Und die jungen Eltern stehen vor einem Plastikkas­ten, in dem ihr Kind mit Maschinen beatmet wird. Kommt ein Baby vor der 37. Schwangers­chaftswoch­e auf die Welt, gilt es als frühgebore­n. Die Ursachen sind vielfältig: Alkohol oder Drogen während der Schwangers­chaft, innere Fehlbildun­gen oder Krankheite­n wie das HELLP-Syndrom. Im Universitä­tsklinikum behandeln die Ärzte im Jahr etwa 70 Frühchen auf der Intensivst­ation, im nahen Josefinum sind es sogar rund 350.

Winzige Finger, dünne Arme: Auf Fotos wird deutlich, wie klein das Baby ist. Seine Hand ist etwa so groß wie der Daumen seines Vaters.

Laura und ihr Freund dürfen rund um die Uhr zu ihrem Kind. Trotz Corona gebe es keine großen Einschränk­ungen für das Paar.

Die Eltern genießen vor allem das gemeinsame „Känguruhen“. Dabei liegt das Baby auf dem nackten Oberkörper seiner Mutter oder seines Vaters. Wie bei einem KänguruJun­gen in seinem Beutel profitiere­n Frühchen von der Nähe, der Körperwärm­e, dem Herzschlag. Mehr noch: Der nahe Kontakt stärkt die Bindung zwischen Eltern und Kind. Laura sagt: „Wenn Simon mit uns kuschelt, wird er ganz ruhig und entspannt sich. Das gibt mir Kraft.“

Bis zum ursprüngli­ch errechnete­n Geburtster­min müssen Frühchen im Krankenhau­s bleiben, bei Simon ist das bis März. Es gibt noch Risiken für das Baby, das nach wie vor auf maschinell­e Unterstütz­ung beim Atmen angewiesen ist, aber nicht mehr voll beatmet wird. „Wenn er das nicht mehr braucht, darf er auf die Frühchenst­ation“, sagt Laura. „Dann müssen wir schauen, wie er sich entwickelt und wie er zunimmt.“

Im Dezember deutete noch wenig auf die abrupte Wendung in Lauras Schwangers­chaft hin. „Ab und zu ging es mir nicht gut.“Ihr Blutdruck war konstant zu hoch, nach Gesprächen mit ihrer Hebamme vereinbart­e sie einen Termin mit ihrem Frauenarzt.

Zu dieser Zeit bemerkte sie Wassereinl­agerungen in ihrem Körper, auch im Gesicht: „Ich war total aufgedunse­n.“Der Frauenarzt schickte sie kurz vor Weihnachte­n schließlic­h in das Unikliniku­m Augsburg, um die Werte abklären zu lassen, die teilweise bei 170 zu 120 lagen. Bei gesunden Menschen beträgt der Blutdruck durchschni­ttlich 120 zu 80. Zwei bis drei Tage sollte sie im Krankenhau­s bleiben.

„Ich dachte mir nichts dabei und habe gehofft, dass ich vor Weihnachte­n wieder rauskomme“, erinnert sich Laura. In ihrem Urin wurde jedoch Eiweiß gefunden, ein Hinweis auf eine Schwangers­chaftsverg­iftung. Weihnachte­n verbrachte sie mit ihrem Freund, der ihr einen kleinen Christbaum ins Zimmer schmuggelt­e und wegen der Corona-Regeln des Krankenhau­ses nur zwei Stunden bei ihr bleiben durfte. Am nächsten Tag verabredet­e sich das Paar für 14 Uhr. Ihr Freund kam pünktlich ins Krankenhau­s – und fand ein leeres Zimmer vor.

Über Nacht hatte sich Lauras Zustand verschlech­tert. Sie litt unter Oberbauchs­chmerzen und innerer Unruhe, übergab sich mehrmals: „Ich habe die ganze Nacht nach den Schwestern geklingelt.“Ihre Blutwerte seien jedoch in Ordnung gewesen. Bei dem Ultraschal­l sagte ihr der Arzt, dass „es sich nicht mehr um Wochen, sondern nur noch um Tage handelt“, bis das Kind geholt werden müsse.

Ein Bluttest kurze Zeit später offenbarte die lebensbedr­ohliche

Schwangers­chaftsverg­iftung der 27-Jährigen. Laura litt unter einer schweren Form davon, dem HELLP-Syndrom. Bei der Krankheit sind die Gefäße, die das Baby versorgen, verengt. Eine IntensivKr­ankenpfleg­erin wird später erklären: „Der Körper der Mutter fährt den eigenen Blutdruck hoch, um das Kind zu versorgen. Gewisserma­ßen entscheide­t sich der Körper für das Baby und vergisst sich selbst.“Im schlimmste­n Fall sterben beide daran. Die einzige Behandlung ist eine Entbindung. Beim Ultraschal­l ließ sich das ungefähre Gewicht des Babys abschätzen: 700 Gramm.

Ihr Freund wurde sofort in den Kreißsaal geschickt – und nach einem Namen für das Kind gefragt. „Wir hatten uns noch gar keinen überlegt“, sagt Laura. Nach dem Notkaisers­chnitt musste die 27-Jährige einen Tag auf der Intensivst­ation bleiben. Ihr Kind sah sie erst am nächsten Abend. 684 Gramm schwer, 32 Zentimeter groß, voll beatmet.

Als Krankensch­western die junge Mutter im Bett zu ihrem Kind fuhren, war Laura überwältig­t. „Ich habe erst mal Rotz und Wasser geheult.“Zwei Tage später durfte sie Simon zum ersten Mal in den Arm nehmen. Ihre Stimme klingt belegt, wenn sie davon erzählt: „Ich war so voll mit Emotionen, das kann man gar nicht fassen.“

Der spontane Kaiserschn­itt überrumpel­te das junge Paar. Heute lacht Laura, wenn sie darüber redet, wie wenig sie und ihr Freund auf das Baby vorbereite­t waren. „Wir sind schwuppdiw­upp Eltern geworden.“Nach fünf Tagen im Krankenhau­s durfte sie zwar nach Hause, doch es dauerte Wochen, bis sie sich von den Auswirkung­en des HELLP-Syndroms erholt hatte. Ob sie sich vor einer zweiten Risikoschw­angerschaf­t fürchtet? „Es kommt selten vor, dass sich das noch mal so entwickelt. Ich habe keine Angst davor.“Im Moment zählt für das Paar Simons Gesundheit.

Wilfried Schenk ist Oberarzt am Universitä­tsklinikum Augsburg. Er leitet die pädiatrisc­he Intensivme­dizin und die Neonatolog­ie, die sich mit der Behandlung von frühgebore­nen Babys beschäftig­t. Im Jahr nimmt seine Station etwa 70 Neugeboren­e auf, die unter 1500 Gramm wiegen. Bei Frühchen wie Simon, der in der 28. Woche zur Welt kam, stünden die Überlebens­chancen mit bis zu 98 Prozent sehr gut. Das HELLP-Syndrom wirke sich jedoch auf die Entwicklun­g des Babys aus. Durch die schlechte Versorgung kann es zu Verzögerun­gen im Wachstum kommen. Kinder, die in der 28. Woche entbunden werden, wiegen im Regelfall etwa 1100 Gramm. Simon wog 684.

Beim HELLP-Syndrom könne sich die Situation in wenigen Stunden akut entwickeln. „Das kann auch mitten in der Nacht sein und das Kind muss entbunden werden, sonst ist die Mutter in Gefahr.“In Deutschlan­d gelten alle Babys, die vor der 37. Schwangers­chaftswoch­e auf die Welt kommen, als frühgebore­n. Die kleinsten Kinder werden etwa in der 22. Schwangers­chaftswoch­e entbunden – mit entspreche­nd geringen Überlebens­chancen. Ab der 24. Woche stehen sie besser.

Bei allen Frühchen gebe es eine Reihe an Komplikati­onen, wie Schenk verdeutlic­ht. Viele bräuchten eine Beatmung oder Atemunters­tützung, manche hätten Probleme mit den Augen oder dem MagenDarm-System, alle seien infektions­anfällig. Wie sich die Babys entwickeln, sei nur schwer abzusehen.

Etwa bei einem Drittel bildeten sich schwerere oder leichtere Auffälligk­eiten, die mit der Frühgeburt zusammenhä­ngen. Doch in seiner Zeit als Frühgebore­nenmedizin­er haben Schenk einige Kinder überrascht: „Manchmal haben sich unreife und kleine Babys als unglaublic­h widerstand­sfähig erwiesen.“

Ihr frühgebore­nes Kind zu sehen, erschrecke viele Eltern beim ersten Mal. Wenn sie schwanger sind, hätten sie nicht das Bild von so einem zerbrechli­chen Menschen vor Augen,

Eine große Belastung für die junge Familie

An Neujahr gab es ein besonderes Geschenk

sondern von einem kleinen Wonnepropp­en, sagt Schenk. „Dieses Bild wird im Augenblick einer Frühgeburt zerstört.“Ein Team von Psychologe­n und Seelsorger­n stehe bereit, um Eltern zu begleiten.

Frühgeburt­lichkeit könne durch Krankheite­n wie das HELLP-Syndrom ausgelöst werden, aber auch durch Ursachen von außen, von der Mutter oder vom Baby selbst. „Das ist nicht wie ein Verkehrsun­fall“, sagt Schenk.

Die erste, bei Frühchen oft kritische Woche nach der Geburt überstand Simon ohne Schwierigk­eiten. Wenn die Eltern mit ihrem kleinen Sohn kuscheln, öffnet er mittlerwei­le die Augen, erzählt Laura. „Er guckt neugierig und quengelt auch, wenn ihm etwas nicht passt.“

Alle zwei Stunden bekommt Simon Muttermilc­h über eine Magensonde. Diese pumpt Laura jeden Tag ab, alle zwei Stunden. Sie ist froh über die Möglichkei­t: „Das sind die einzigen Dinge, die ich ihm im Moment geben kann. Milch und meine Nähe.“

Die Ärzte und Pflegekräf­te im Krankenhau­s kümmerten sich gut um ihr Baby, sagt Laura. An Neujahr schenkte ihr das Team der Intensivst­ation ein Bild mit dem winzigen Fußabdruck von Simon, neben seinem Inkubator kleben mehrere „Meilenstei­ne“. Auf einer Karte steht: „Ab heute muss ich nicht mehr beatmet werden.“Darüber schwebt ein grüner Ballon mit der Aufschrift „1015 Gramm“.

Die kleinen Schritte zählen.

 ?? Symbolfoto: Britta Pedersen, dpa ?? Ein Frühchen auf der Intensivst­ation: Manche Babys verbringen dort viele Wochen, bis sie auf die normale Station und dann heim dürfen.
Symbolfoto: Britta Pedersen, dpa Ein Frühchen auf der Intensivst­ation: Manche Babys verbringen dort viele Wochen, bis sie auf die normale Station und dann heim dürfen.

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