„Das fühlt sich nicht richtig an“
Neuntklässlerin Chiara Vogl und Gymnasiallehrerin Anna Schreiber erzählen, wie sich ihr Verhältnis durch das Virus verändert hat, auf welche Probleme sie stoßen – und warum die Politik öfter mal auf sie hören sollte
Chiara, Frau Schreiber, hätten Sie beide je gedacht, dass Sie sich einmal vermissen würden?
Chiara Vogl: Ich vermisse meine Lehrer schon. Mir fehlt einfach der Ansprechpartner, der mir aktiv Wissen vermittelt. Wenn ich mir in Mathematik Sinus, Cosinus und Tangens selber beibringen muss, ist das natürlich schwer, wenn man keinen Mathelehrer an der Seite hat. Selber verstehe ich das nicht. Und mir fehlt das Gefühl von Schule. Die sozialen Aspekte fallen komplett weg. Vor Corona hatte ich nie einen Gedanken daran verloren, dass ich plötzlich zu Hause vor dem Laptop sitzen könnte und niemanden mehr sehe.
Anna Schreiber: Was mir fehlt, ist, dass in der Schule wahnsinnig viel gelacht wird. Im Unterricht oder auf dem Gang – in der Schule herrscht in der Regel eine leichte, fröhliche Stimmung. Die ist einfach weg.
Hört sich an, als wäre virtueller Unterricht eine ziemlich traurige Sache. Vogl: Es ist anstrengend, es ist ungewohnt – und ja, es ist tatsächlich traurig. Du sitzt da drin und denkst dir: Das fühlt sich nicht richtig an – auch wenn es natürlich notwendig ist, dass wir von zu Hause lernen. Aber es könnte an vielen Stellen besser laufen. Mir fehlt zum Beispiel das Gespräch mit anderen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass darauf geschaut wird. Bei meiner Schwester in der Grundschule fragen die Lehrer: Hey, wie geht’s dir? Bei uns in der Mittelstufe passiert das nicht. Viele fühlen sich demotiviert, manche haben Angst, dass sie sich nach dem Lockdown nicht mal mehr normal unterhalten können. Man könnte sagen: Jeder Klassleiter macht eine Stunde pro Woche, in der man wirklich miteinander spricht, wo man Mikro und Kamera anmacht und einfach redet.
Frau Schreiber, haben Sie das Gefühl, im Distanzunterricht den Kontakt zu Ihren Schülern zu verlieren? Schreiber: Es stimmt, dass das Fachlehrerprinzip am Gymnasium jetzt seine Schwächen zeigt und dieser Austausch nicht strukturell etabliert ist. Viele von uns Lehrern sind aber gern für die Schüler da und wir können sie nur ermutigen, auf uns zuzukommen, zum Beispiel ganz unkompliziert über den Chat. Es laufen auch „inoffizielle“Begleitgespräche. Aber wir wären als Schule noch mehr gefordert zu überlegen: Wie erreichen wir alle Schüler mit ihren Problemen? Es gibt jedoch Aktionen, die zeigen: Wir lernen etwas gemeinsam, wir stehen das gemeinsam durch.
Wie läuft so ein Unterrichtstag ab? Vogl: Der Stress ist teilweise krass. Wir haben jeden Tag mehrere Videokonferenzen – und dazwischen manchmal Arbeitsaufträge, die einen mehr als 45 Minuten kosten. Und es gibt mehrere Portale, die man im Blick haben muss: Mebis, Homeworker, Teams, Elternportal, Chat. Ich bin oft verunsichert: Habe ich jetzt eine Videokonferenz oder habe ich keine? Was bedeutet dieser Arbeitsauftrag? Da würde ich mir manchmal einen klareren, strukturierten Wochenplan wünschen – und dass wir mehr in diese Planung einbezogen werden. Dass wir gefragt werden, was schiefläuft und wie man das lösen könnte.
Schreiber: Würdest du dir also wünschen, dass man Schule in diesen Zeiten noch mehr demokratisiert? Vogl: Ja. Ich habe gerade das Gefühl, dass die Auffassung herrscht: Der Schüler muss damit klarkommen, was der Lehrer für ihn entscheidet. Dass wir kein Mitspracherecht haben. Das ärgert mich aber auch außerhalb der Schule.
Wann und wo denn noch?
Vogl: Gehen wir doch mal in die Politik. Ich habe sehr oft das Gefühl, dass die Politik für uns Sachen entscheidet, aber sich nicht so wirklich dafür interessiert, wie es uns dabei geht. Millionen werden in Lufthansa und Tui investiert, um die zu retten, aber bei Schulen kommt das Geld für Laptops nicht an. Die Politik hört sich die Probleme von uns Schülern nicht wirklich an. Ich denke, weil wir nicht so viel zählen, weil wir bei Wahlen noch keine Stimme abgeben können. Wir Schüler können nicht einfach aufstehen und sagen: Hören Sie zu, Herr Politiker, so funktioniert das nicht. Aber es geht um meine Zukunft – da will ich nicht bevormundet werden, was ja eh schon meine Eltern tun (lacht). Es kommt mir vor, als wären Schüler in der Prioritätenliste echt weit hinten. Klar, es ist sehr wichtig, die Wirtschaft aufzubauen. Aber in so vielen Punkten denkt man nur ans Jetzt. Würde man in die Zukunft denken, müsste man doch entscheiden: Okay, wir splitten das auf. Wir investieren Geld in die Schule: um die digitalen Möglichkeiten zu schaffen, um Luftreiniger herzukriegen. Wir Schüler sind die, die sich später um unser Land kümmern. Ich würde sehr gerne mal mit einem Politiker sprechen. Aber ich wüsste gar nicht wie. Und selbst wenn: Ich würde wahrscheinlich nicht für voll genommen. Dann würde ein schönes Bild gemacht, wo man sich die Hand schüttelt, aber am Ende kommt nichts dabei raus. Schreiber: Das klingt jetzt vielleicht anbiedernd, aber ich schätze und bewundere die Meinung von Schülern. Auf Bairisch würde ich sagen: Die haben oft verdammt g’sunde Ansichten. Man ist wirklich gut beraten, darauf zu hören. Wenn man Schülern Verantwortung gibt, lernen sie auch, wie man damit umgeht. Und man kann den allermeisten Schülern vertrauen. Ich habe auf Nachfragen meinen Bekannten immer bewundernd erzählt, wie sie die Corona-Regeln mittragen – zum Beispiel das Masketragen im Unterricht. Den Schülern war vor dem Lockdown bewusst: Das ist der
Preis dafür, dass wir da sein dürfen. Umso mehr finde ich es schade, dass man den Schulen nicht mehr vertraut und nicht vonseiten der Politik sagt: Okay, wir buttern da Energie rein, wir testen jede Woche alle durch. Die Politik könnte uns als Schule Wertschätzung zeigen, indem sie sagt: Wir nehmen euch ernst und deshalb schaffen wir Möglichkeiten, dass ihr euren Laden wieder betreiben könnt. Aber es muss sicher für Schüler und uns Lehrer sein.
Vogl: Ich glaube, dass man Kinder so schnell wie möglich wieder in die Schule schicken will, damit die Eltern wieder arbeiten können – auch wenn kein Konzept da ist. Präsenzunterricht ist ja heilig, da sind alle wieder happy, wir haben keine Probleme und keine Lücken mehr. Aber so ist die Realität nicht. Man will das Thema beiseiteschieben und lieber die großen Konzerne retten.
In der Hoffnung, dass bald wieder alles geordnet abläuft: Wird das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern nach Corona ein anderes sein?
Vogl: Ich denke, dass sich zu vielen Lehrern das Verhältnis bessert. Weil man merkt, dass sie sich für einen interessieren, auch wenn man nicht im Präsenzunterricht ist. Es gibt aber auch welche, die ich jetzt nach dem Digitalunterricht nicht mehr so sympathisch finde (lacht). Ich denke generell schon, dass die Verbindung gestärkt werden kann, weil man gemeinsam durch diese Krise gegangen ist.
Schreiber: Ich erlebe auch über Video und Chat eine ganz positive, freundliche Herzlichkeit. Ich habe das Gefühl, man geht jetzt solidarischer und wertschätzender miteinander um. Schüler und Lehrer nehmen sich beide in einer neuen Rolle wahr, und ich glaube, auf beiden Seiten ist auch viel Verständnis da. Das sollte man sich bewahren.
Und der Unterricht? Wie wird er sich nach dem Virus verändern?
Vogl: Es wäre möglich, den digitalen Aspekt auch in Zukunft einzubeziehen – aber nur, wenn die Digitalisierung weitergeht. Wenn das Internet in der Schule funktioniert, wenn die PCs nicht mehr aus dem Jahr 2005 sind. Und vielleicht könnte man die Schüler ein bisschen mehr in die Schulmaschinerie einbeziehen und fragen: Was denkt ihr denn? Das wäre was Gutes.
Schreiber: Wir Lehrer haben gelernt, dass unsere Schüler sehr gut Verantwortung übernehmen können. Es ist mehr Selbstständigkeit da, als wir gemeinhin annehmen. Die Schüler als Lernpartner ernst zu nehmen, das sollten wir langfristig verinnerlichen.
Moderation: Sarah Ritschel