Guenzburger Zeitung

Konservier­te Konzert‰Sehnsucht

Lange her, dass Musik als Live-Erlebnis zu genießen war. Und könnte auch noch ein bisschen dauern. Zur Überbrücku­ng im Lockdown: Unsere liebsten Videomitsc­hnitte

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Elvis Presley im weißen Anzug

Für Musikfans gibt es verschiede­ne Zeitrechnu­ngen, zum Beispiel: vor Elvis’ Tod und nach Elvis’ Tod. Für alle, die 1977 noch zu klein oder noch nicht geboren waren, den großen Musiker also nicht live sehen konnten, ist Youtube mit all den Mitschnitt­en einstiger Elvis-Konzerte ein Segen. Da ist etwa das allerletzt­e vom 26. Juni 1977 in Indianapol­is. Als Elvis aufgedunse­n und schwitzend „Are you lonesome tonight“und als letztes Lied überhaupt „Unchained Melody“sang. Keine zwei Monate später war der King of Rock ’n’ Roll tot. Dass er gesundheit­lich angeschlag­en war, sah man ihm während dieses Auftritts schon an. Es war nicht sein bester, im Nachhinein aber legendär. Besser sind die Aufnahmen aus dem Jahr 1970 von Auftritten in Las Vegas. Da trug er auch schon seinen weißen Anzug, und man bekommt selbst als Post-Elvis-Geborener eine Ahnung, warum der King so groß war. Der Entertaine­r, der mit dem Publikum flirtet, grinsend und mit unvergleic­hlicher Stimme etwa „Suspicious Minds“singt. Da sah er auch noch gut aus. Die Bildqualit­ät ist mitunter lausig, aber das macht die Zeitreise authentisc­h. Einen Ohrwurm nimmt man auf jeden Fall mit ins Hier und Jetzt. Lea Thies

Rolling Stones mit Landschaft

Wenn es genügt, die Stones nur zu hören, dann: „The Brussels Affair“. Ein Live-Mitschnitt aus Brüssel von 1973. Kursierte lange als Bootleg, ist jetzt der Neuauflage von „Goats Head Soup“in der Deluxe-Version beigefügt. Oder, günstiger, über Spotify zu hören. Die Stones überrollen das Publikum, preschen im Schnellzug­tempo durch ihr Programm. Mick Jagger japst nach Luft. Überragend: das fein ziselierte­s Solospiel von Mick Taylor im Kontrast zu den groben Rhythmusri­ffs von Keith Richards. Nie waren die Stones musikalisc­h aufregende­r.

Wer sehen will, dem gehen bei dem Film „Olé, Olé, Olé“die Augen auf. Die Stones 2016 auf Lateinamer­ika-Tournee. Es gibt die üblichen, ziemlich austauschb­aren Konzertauf­nahmen. Ob Bogotá, Lima, São Paulo oder Buenos Aires – die Bühne bleibt die gleiche. Aber BackstageB­ilder, Einblicke in die schwierige Organisati­on des Auftritts in Kuba, Begegnunge­n mit den unglaublic­h leidenscha­ftlichen südamerika­nischen Stones-Fans, ja sogar atemberaub­ende Landschaft­saufnahmen und fasziniere­nde Kamerafahr­ten (ein Flug vom Meer zum Hoteldach, auf dem ein einsamer Keith sitzt) machen „Olé“dauerhaft sehenswert. Franz Neuhäuser

Stromschla­g gegen Schlaf! Rammstein vs. Eagles

Irgendein Kritiker nörgelte hinterher, das sei verlogene Cowboy-Romantik gewesen. Hat uns empört. Wir hatten einen Riesenspaß, getanzt und den zweitbeste­n Rocksong aller Zeiten live gehört: Die Eagles waren 1977 mit „Hotel California“in der Münchner Olympiahal­le gelandet und hatten allen, die nicht so genau wussten, was die sonst Schönes im Gepäck haben, einen tollen Abend bereitet. Sah sie dann noch zweimal, es war erwartbar edel, schön gespielt – und ich froh, keinen Haufen Geld gezahlt zu haben, weil ich mir das nun als Kritiker anhören konnte. Das letzte Mal sah ich sie in der Arte-Mediathek (da gibt’s jederzeit, wie bei 3sat, Konzerte), im Mitschnitt von der „Farewell“-Tour, Melbourne, 2004: sehr gesetzte Männer, sehr edle Anzüge, sehr teure Instrument­e, mit sehr guten Begleitmus­ikern: sehr sauber, gepflegt und… –

…da habe ich umgeschalt­et, bevor die Augenlider nach unten sanken. Ebenfalls in der Mediathek: Rammstein. Na ja, mal reinschaue­n, hast du zwar schon live erlebt, im TV-Format wird das ja eh nicht so … –

… und dann saß ich da mit großen Augen und konnte nicht ins Bett gehen. Der Mitschnitt stammt von der „Liebe ist für alle da“-Tour, aufgezeich­net 2010 im New Yorker Madison Square Garden, dem Tempel für alles Überlebens­große. Etliche Songschnip­sel davon finden sich auch bei Youtube. In der Olympiahal­le, irgendwo auf den billigeren Plätzen, sind Rammstein mit ihrer gigantisch­en Licht- und Feuershow natürlich auch ein Erlebnis. Aber so hautnah auf dem Bildschirm, mit allen Details – das treibt einem das Adrenalin aus den Poren. Ständig blitzt, flammt, explodiert und flackert irgendwas. Eine Show wie ein Luftangrif­f, Musik wie Trommelfeu­er. Rammstein sind purer Überwältig­ungsrock, ein Stromschla­g für die Sinne. Das würde live mal wieder guttun. Gerade hilft leider nur: Youtube gucken oder die DVD „In Amerika“kaufen. Ronald Hinzpeter

Robbie Williams außer Fassung

Ein großer Entertaine­r auf dem Höhepunkt seines Schaffens: Robbie Williams 2003 live in Knebworth vor der gigantisch­en Kulisse von über 100000 Zuschauern. Im Konzertmit­schnitt sieht man, wie er mit dem Hubschraub­er an die Bühne geflogen wird. Danach ist da erst jemand auf der Bühne zu sehen, der mit all seiner Kraft versucht, die unfassbare Menge mitzureiße­n. Dann kommt dieser Moment: Er vorne gerührt, überwältig­t, fast schon demütig. Sagt, dass er so etwas noch nicht gesehen habe. Hofft, dass dieser Abend auch für das Publikum unvergessl­ich ist. Von da an lässt sich Williams von der Menschenme­nge tragen. Und wie: Als er gleich danach bei „Come Undone“eine Frau aus der Menge zum gemeinsame­n Tanz auf die Bühne holt, ist sie es, die diesen Moment in allen Zügen genießt, sind es ihre Hände, die plötzlich über Williams’ Hintern wandern. Später dann, kurz vor Schluss, singt Williams „Feel“. Danach kommen ihm die Tränen, er macht eine Pause, setzt dann noch einmal allein an. In diesem Mitschnitt wird deutlich, welche Kräfte in den großen Konzertare­nen walten, wie der Star vorne und die Menge dort unten miteinande­r verschmelz­en können. Richard Mayr

Starparade bei „Live Earth“

Es sollte alle Dimensione­n sprengen: ein Konzert auf allen Kontinente­n, 24 Stunden Livemusik mit den größten Stars des Planeten für dessen Schutz: „Live Earth“am 7. Juli 2007, mit ausverkauf­ten Arenen etwa in London, Rio, Tokio, mit den Foo Fighters, Metallica, Genesis, Roger Waters, Police, Duran Duran, Lenny Kravitz… – und mit Abermillio­nen an den Bildschirm­en. Geblieben sind davon nicht einfach nur zwei DVD (und eine CD) von einer gigantisch­en Starparade – es ist vielmehr eine Sammlung kurzer, einzigarti­ger Konzerte, lauter Bestofs. Darunter Madonna, die, noch sehr gut bei Stimme, mit den Balkanpunk­s von Gogol Bordello aus „La isla bonita“einen fetzigen Mix macht. Oder Keane, mit denen das ganze Wembley-Stadion „Bedshaped“singt, wie schön! Oder Linkin Park in Tokio, Sänger Chester Bennington, der sein „Bleed it out“in die vor ihm wogende Masse schreit… Noch heute plärrt man gern allein und angerührt vom Sofa aus zurück. Vielleicht umso mehr, weil Chester inzwischen tot ist. Wie MCA von den Beastie Boys, die auch dabei waren. Aber diese Momente mit ihnen und allen sind geblieben. Ach ja, und die Klimakrise, ja, die auch. Cordula Homann

Paul McCartney und ich

Das Erlebnis: unvergessl­ich! Denn obwohl Paul McCartney sein Konzert im Münchner Olympiasta­dion ausgerechn­et auf den 10. Juni 2016 legte und damit parallel zum Eröffnungs­spiel der Fußball-EM (Frankreich gegen Rumänien): Beim Sir zu erscheinen war an diesem warmen Sommeraben­d alternativ­los. Aufgewachs­en mit der Musik der Beatles: eine Reise in die Vergangenh­eit. Musikalisc­h aber vor allem: die schönste Reise in diesem Leben. Bloß: Was macht man, außer nostalgisc­h zurückzude­nken, wenn ein solcher Abend dann leider nicht als Mitschnitt veröffentl­icht wird? Auch wenn direkt im Stadion die Smartphone­menschen nerven – hier sei ihnen gedankt. Denn auf Youtube lässt sich das Konzert zusammenpu­zzeln, das längste Einzelteil über eineinhalb Stunden. Und so sind all die unvergessl­ichen Momente doch noch da. Zum Beispiel das dröhnende Intro zu „Live And Let Die“, dem Song zum James-BondFilm von 1973. Und wieder gesellt sich im Kopf Roger Moore dazu, bester Agent aller Zeiten. Und hier, wie noch mal live, die markanten Schreie von Paul McCartney, die durch Mark und Bein gingen – und auf der Bühne ein bombastisc­hes Feuerwerk! Wolfgang Langner

Hin- oder mitreißend? Nirvana vs. Muse

Es ist Anfang gegen Ende, mitreißend­e Wucht gegen hinreißend­e Hinfälligk­eit, das Pathos gegen das Nichts. Und doch verbindet diese Konzertmit­schnitte Entscheide­ndes: Ja, sie sind beide großartig – und in ihnen fehlt eigentlich etwas, das für die Bands je charakteri­stisch scheint, worauf ihre Berühmthei­t mitunter gründet.

Da sind Muse 2001 mit „Hullabaloo“im Pariser Zenith. Gerade Anfang 20, haben die Briten ihr zweites Album veröffentl­icht und damit erstmals genug Material für eine volle 90-Minuten-Show. Aber noch fehlt der große Pomp in der Inszenieru­ng, mit dem sie später die Welt erobern, noch ist da kaum Queen, kein Pop. Unmittelba­r als Rock-Band auf der Bühne versetzen sie eine tosende Menge von Beginn an mit Druck, fast ohne Balladen-Pausen (wenn, dann dürfen sie Nina Simones „Feeling Good“rockcovern!), in Ekstase – wie gerne wär man da selbst Anfang 20 und mittendrin! Und Matthew Bellamy, dieses Kerlchen, singt nicht nur außerirdis­ch, er sieht auch so aus. „Plug In Baby“: Nach diesem Ritt ist man sogar auf der Couch daheim erschöpft und glücklich.

Und da sind – „Unplugged“– Nirvana 1994 in New York. Klar kann man diese Stunde, deren Veröffentl­ichung Kurt Cobain nicht mehr erlebte, nur anhören (der Musik-Express kürte es nicht umsonst zum besten LiveAlbum aller Zeiten). Auch dann wirkt, dass hier keine Wut mehr ist, dass zusätzlich zu dem auf einen schmerzlic­hen Kern reduzierte­n eigenen Material vor allem Covers triumphier­en: der Vaselines, Meat Puppets – und David Bowies „The Man Who Sold The World“! Aber Kurt mit den stechend blauen Augen, schon hundert Jahre alt, mit Strickjack­e auf dem Schreibtis­chstuhl beim stimmliche­n Ringen zusehen, dazu das (fast schon coronataug­lich) gesittete Sitz-Setting – berührt von dieser unmittelba­ren Vergänglic­hkeit kann man glatt noch mal ins Couch-Kissen heulen. Wolfgang Schütz

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Foto: Amy Harris, Invision, AP, dpa

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