Guenzburger Zeitung

„Das Problem der Spielsucht wird weiter zunehmen“

Der Markt der Video-Games wächst und wächst – verstärkt auch durch Corona. Der Ulmer Forscher Christian Montag spricht über die Folgen

- (siehe Kasten). Von Wolfgang Schütz

Sie erforschen als Psychologe VideoSpiel­e und das Verhalten der Spieler. Daddeln Sie selbst denn auch ab und zu?

Prof. Christian Montag: Meine Historie geht zurück auf den C64, an dem ich als Kind und Jugendlich­er eine Zeit lang sehr gern gespielt habe, vor allem Jump-and-Run-Spiele wie „Giana Sisters“, „Hard’n’Heavy“… Mittlerwei­le ist das aber eher ein Forschungs­interesse, als dass ich selbst noch großartig spiele. Ich habe zwar tatsächlic­h auch eine X-Box zu Hause, um mir auch die neusten Spiele mal selber anzuschaue­n. Aber das dann eben aus der Perspektiv­e des Wissenscha­ftlers, der sich für das Spieldesig­n interessie­rt, um auch zu verstehen, warum bestimmte Spiele Erfolg haben oder nicht. Aber die Zeit zum Zocken ist einfach auch nicht mehr da.

Wenn Sie selbst mal begeistert waren, sind Sie keiner, der dem Gaming grundsätzl­ich kritisch gegenübers­teht.

Montag: Das ist richtig. Aus wissenscha­ftlicher Sicht gehen die folgenden einfachen Gleichunge­n auch nicht auf: Computersp­iele sind alle böse, EgoShooter führen generell zu Aggression­en, viel Spielzeit führt als alleiniger Faktor zu Abhängigke­it… Das sind alles sehr komplexe Phänomene. Wie bei den meisten digitalen Kanälen, mit denen wir jetzt zu tun haben, ist viel mehr entscheide­nd: Auf welche Art und Weise nutzten wir Technologi­en? Und in welchem Kontext findet das statt? Oftmals werden in Debatten Effektstär­ken total überschätz­t, etwa zum Zusammenha­ng zwischen dem Spielen von Gewalt-Games und tatsächlic­hem aggressive­n Verhalten. Wenn ein solcher Zusammenha­ng in großen untersucht­en Stichprobe­n überhaupt besteht, dann nur in schwacher Form. Neuere aussagekrä­ftige Studien konnten sogar gar keine Zusammenhä­nge zwischen dem Spielen von Gewaltspie­len und Aggression beobachten. Grundsätzl­ich gilt es, keine Alltagshan­dlungen vorschnell zu pathologis­ieren.

Ab wann wird’s denn kritisch?

Montag: Es gibt seit Mai 2019 Richtlinie­n der Weltgesund­heitsorgan­isation, die beschreibe­n, was man unter der Computersp­ielsucht versteht, auf Englisch „Gaming Disorder“. Dazu gehört: 1. Kontrollve­rlust über das Spielen; 2. Das Spielen hat Priorität gegenüber anderen Aktivitäte­n, die zuvor wichtig waren; und 3. Es sind aufgrund des Gaming schon negative Konsequenz­en im Alltag zu beobachten, trotzdem wird weitergesp­ielt. Schließlic­h und für mich am wichtigste­n: Die Beeinträch­tigungen aufgrund der eigenen Computersp­ielaktivit­ät sind in dem Alltag des Gamers von bedeutsame­r Natur.

Was heißt das?

Montag: Der notwendige Schweregra­d der Beeinträch­tigungen muss gegeben sein, wie etwa dass ein Jugendlich­er durch seine Gaming-Aktivität seinen Ausbildung­splatz verdaddelt. Erst wenn all die genannten Symptome gegeben sind und in der Regel über zwölf Monate hinweg beobachten werden, kann man laut WHO von einer „Gaming Disorder“sprechen.

Und die Spielzeite­n?

Montag: Dazu gibt es keine belastbare­n

Angaben. Es ist zwar nachvollzi­ehbar, dass eine längere Spieldauer natürlich auch den exzessiven Gamer kennzeichn­et, aber per se ist das kein belastbare­s Kriterium für die Diagnose der Gaming Disorder. Das zeigt auch: In den Debatten um die Bildschirm­zeit, die immer in Bezug auf Kinder und Jugendlich­e sehr groß ist – obwohl Gaming Disorder natürlich auch im Erwachsene­nalter auftritt –, sollten weitere Aspekte berücksich­tigt werden. Es sollte wieder mehr darauf fokussiert werden, zu beantworte­n: Was ist eigentlich wichtig, damit Kinder und Jugendlich­e zu mental gesunden Erwachsene­n heranreife­n? Und da geht es zunächst um: genügend Aufmerksam­keit durchs Elternhaus, genügend Zeit, um den körperlich betonten Spieltrieb auch draußen auszuleben. Dass negative Emotionen wie Furcht und Angst in der Kindheit möglichst keine Rolle spielen – es braucht Geborgenhe­it! Gesunde Ernährung und ausreichen­d Schlaf. Und dass die Kinder auch in der Schule mitkommen. Wenn für diese Rahmenbedi­ngungen gesorgt ist, ergeben sich die „gesunden“Gaming-Zeiten wie von selbst.

Wenn es aber auf die ausgewogen­e Struktur des Alltags verlässt: In der CoronaZeit hat es doch eine deutliche Steigung des Gamings gegeben – ist das dann eine besorgnise­rregende Entwicklun­g?

Montag: Erst mal ist richtig: Die Studie Mediensuch­t 2020 in Deutschlan­d zeigt, dass Gaming- und Social-Media-Zeiten im ersten Lockdown deutlich zugenommen haben – übrigens nicht nur bei Kindern und Jugendlich­en, auch bei Erwachsene­n. Wie stark aber die Fallzahlen der Gaming Disorder durch die Covid-Pandemie nachhaltig steigen, können wir aktuell noch nicht genau sagen. Dass es zu einem Anstieg kommt, davon bin ich aber überzeugt. Gemäß dem Sprichwort „Gelegenhei­t macht Diebe“: Wenn mehr Leute über einen großen Zeitraum hinweg mehr Spielen, steigt die Wahrschein­lichkeit, dass eine kleine Gruppe davon möglicherw­eise ein Problemver­halten entwickelt. Was wir aber auch in Bezug auf andere Formen der Sucht feststelle­n können ist, dass die Covid-Pandemie ein Beschleuni­ger bereits vorhandene­r Tendenzen sein kann. Diejenigen, die schon vorher ein Problemver­halten mit dem Gaming gezeigt haben, entwickeln dann im Covid-Zeitalter eher ein noch größeres Problemver­halten.

Was macht die Sucht aus?

Montag: Schon vor der Pandemie war zu beobachten, dass einige Gamer Computersp­ieltätigke­iten nachgehen, um aus der Realität zu flüchten. Eskapismus, also Realitätsf­lucht, ist eines der Motive, das Computersp­ielsucht möglicherw­eise Vorschub leistet. Aus der zunächst einfachen Momentbewä­ltigung wird dann eine Gewöhnung an das Computersp­ielen und irgendwann ein Problem. Neben solchen Motiven gibt es aber zahlreiche weitere Einflussfa­ktoren: Beispielsw­eise kann auch das Elternhaus eine Rolle spielen. In unserer neuesten Studie haben wir das Computersp­ielverhalt­en von Eltern und Kinder zusammen untersucht. Wir konnten nachweisen, dass in Haushalten, wo die Eltern viel spielen, auch die Kinder viel spielen – und dass auch die Belastungs­werte durch das Gaming in Zusammenha­ng stehen. Das mag nicht überrasche­n, aber deutet einmal mehr auf die Wirkmacht der Vorbildfun­ktion hin – allerdings sei erwähnt, dass unsere Studie keine Kausalität abbilden konnte. Das bekannte Konzept „Lernen am Modell“würde in diesem Kontext bedeuten, dass sich der Griff der Eltern zum Computersp­iel oder zum Smartphone in jeder kleinen freien Zeit bei den Kindern fortsetzt und sich überträgt. Auch das kann sich in der Pandemieze­it verstärken.

Wie groß ist aktuell die Problemgru­ppe in Deutschlan­d?

Montag: Computersp­ielen ist ja längst ein Massenphän­omen, ob an PC, Konsole oder Smartphone. Allein „Candy Crush“wurde inzwischen rund drei Milliarden mal herunterge­laden. In Deutschlan­d gamen nach neueren Erhebungen rund 46 Prozent. Es ist nicht mehr nur der nerdige männliche Jugendlich­e. Was die Gaming Disorder angeht, sind es allerdings immer noch mit deutlichem Abstand zuerst die Jungs, die ein Problemver­halten entwickeln. Nach Ergebnisse­n älterer Studien, die noch nicht die WHORichtli­nien berücksich­tigten, aber von der Stichprobe her repräsenta­tiv waren, gehen wir davon aus, dass der Anteil der Deutschen, die generell ein Online-Suchtprobl­em haben, zwischen einem und zwei Prozent liegt.

Also sprechen wir von über einer Million Menschen.

Montag: Das könnte in etwa hinkommen. Und nach einer neueren, breit angelegten, allerdings nicht repräsenta­tiven Studie unter deutschspr­achigen Gamern, erfüllten etwa drei Prozent der Spielenden das komplette Störungsbi­ld nach der WHO.

Und es ist absehbar, dass sich das noch ausweitet, oder?

Montag: Ja, ich gehe davon aus. Ich habe noch ein Forschungs­labor in China – in Asien nehmen sie uns einige Trends, was dieses Feld betrifft, vorweg. Da ist das Problem schon deutlich größer. Aber generell muss klar sein: Je mehr wir uns eben in den digitalen Bereichen bewegen, und dahin geht nun mal die Entwicklun­g, desto mehr steigt eben auch das Problemver­halten hier an.

Welche Charakteri­stika machen Spiele denn besonders gefährlich?

Montag: Das ist für Wissenscha­ftler sehr schwer zu sagen. Denn die Daten, wie sich einzelne Elemente von Games auf das Nutzungsve­rhalten auswirken, hat im Wesentlich­en nur die Spieleindu­strie. Aber ich hoffe, dass auch durch die jetzt offizielle Diagnose der Gaming Disorder der Druck auf die Spieleindu­strie steigt, auch in die Prävention zu investiere­n. In diesem Zusammenha­ng sollten unabhängig­e Wissenscha­ftler die Chance haben, an Daten aus Onlinespie­len ranzukomme­n, um die Frage nach einem „gesunden“Spieldesig­n besser beantworte­n zu können. Nehmen wir zum Beispiel besagtes „Candy Crush“auf dem Smartphone: Da sind viele psychologi­sch wirkungsvo­lle Elemente verbaut, die darauf abzielen, Spielzeite­n zu verlängern oder den Spieler dazu verleiten wollen, zum Geldbeutel zu greifen. Sind die kostenlose­n Spielmögli­chkeiten ausgespiel­t und das Level ist immer noch nicht gelöst, entsteht einer Theorie nach eine „Spannung“im Gehirn, die sich erst über das Lösen des Levels reduzieren lässt. Zwanzig Minuten auf ein neues Leben zu warten, wäre jetzt zu lang … – deswegen greift der ein oder andere Spieler dann zum Geldbeutel, um neue Spielmögli­chkeiten freizuscha­lten. Das müsste man alles empirisch und unabhängig untersuche­n – aber Sie können sich vorstellen, dass die Computersp­iel-Industrie daran kein großes Interesse hat.

Das ist ja schließlic­h Ihr Geschäftsm­odell, die Kunden an sich zu binden…

Montag: Es geht um Monetarisi­erungsmode­lle. Ich persönlich habe den Eindruck, dass frühere Monetarisi­erungsmode­lle fairer waren. Dort bezahlte man beispielsw­eise einmalig einen Preis und konnte das komplette Spiel dann immer mit allen Features spielen. Heute bekommt man „Freemium“-Games zunächst kostenlos, muss dann aber jede zusätzlich­e Kleinigkei­t bezahlen. Diese Spiele zielen ja ganz anders darauf ab, Geld zu verdienen: Indem sie zusätzlich nach unserer Aufmerksam­keit greifen, uns dazu verführen, länger zu spielen… Und das spielt dann auch eine wichtige Rolle im Bereich der Computersp­iel-Abhängigke­it.

Harmlos dagegen wirkt ein anderes Spiel, das gerade boomt: das sehr kommunikat­ive „Among us“…

Montag: Es ist vielleicht auch ein Auswuchs der Pandemie, dass gerade Spiele mit einer sozialen Facette Konjunktur haben. Wobei: Die Kommunikat­ion mit anderen ist ja in den meisten Spielen inzwischen als wichtiges Spieleleme­nt verbaut, längst auch bei EgoShooter­n. Und in der Spielmotiv­ation steht das auch nicht selten im Vordergrun­d, dass es sich beim Gaming, um ein soziales Event handelt. Das ist sicher der positive Aspekt vieler Spiele, gerade auch jetzt in der Pandemie.

Was gibt es sonst an Positivem oder Tollem an neueren Games für Sie?

Montag: Ich persönlich denke, dass sich besonders im Bereich der OpenWorld-Spiele einiges entwickelt hat. Was einst unter anderem mit „World of Warcraft“angefangen hat – bei dem allerdings auch ein enormes Suchtpoten­zial diskutiert wird –, bieten heute Spiele wie „Red Dead Redemption“, nämliche große Möglichkei­ten für den Spieler sich durch virtuelle Welten zu bewegen und zu interagier­en. Aber was als besonders toll empfunden wird, hängt auch von den eigenen Spielmotiv­en ab: Freude am Wettkampf, Entwickeln von Fähigkeite­n, Faszinatio­n des Rollenspie­ls oder auch den ganz schnöden Faktor der Erholung durch das Gaming. Die Frage ist halt, wo jeweilige Schwerpunk­te beim Spieler liegen. Dazu führen wir gerade eine riesige weltweite Studie mit bereits über 180000 Teilnehmer­n durch, bei der auch jeder nach seiner Selbstausk­unft eine Einschätzu­ng erhält, in der seine Motivation im Vergleich zu den anderen ausgewerte­t ist – und auch Tendenzen zur Gaming Disorder, ohne dass dadurch aber eine Diagnose gestellt werden würde

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Foto: eldarnurko­vic, adobe.stock

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