Schauen, schauen, noch mal schauen
280 Serien, weit über tausend Filme: Disney geht mit einem hochgerüsteten Abo-Angebot in die Offensive. Das Mouse-House wird damit zum ernst zu nehmenden Konkurrenten für die Platzhirsche Netflix und Amazon Prime
Das kleine Wort „mehr“mit seinen Steigerungsformen „noch mehr“und „viel mehr“ist die am häufigsten verwendete Vokabel während der einstündigen Video-präsentation, in der Disney Plus der deutschsprachigen Presse die neue Erweiterung seines Streaming-Angebotes vorstellt. Mehr Serien und mehr Filme, mit denen mehr Abonnements und mehr Umsatz generiert werden sollen. Seit Disney Plus Anfang letzten Jahres ans Netz gegangen ist, konnte die Plattform weltweit 94,9 Millionen Abonnenten gewinnen und hat damit alle konzerneigenen Prognosen weit übertroffen. In Deutschland und anderen europäischen Ländern wurde der Streaming-Dienst punktgenau zum ersten Lockdown im März 2020 eingespeist und lieferte mit einem äußerst umfangreichen Angebot von „Bambi“bis „Mandalorian“in der Pandemie audiovisuelle Antidepressiva für die ganze Familie.
Beflügelt vom eigenen Erfolg hat sich das Mouse-House große Ziele gesteckt: 230 bis 260 Millionen zahlende Follower will man bis 2024 anlocken und damit möglicherweise den Marktführer Netflix abhängen, gerade sein neues Rekordhoch von weltweit 207 Millionen Abos verkündet hat. Dafür wurde das Budget für Disney Plus von vier auf acht Milliarden Dollar eben mal verdoppelt. Der Erfolg der Streaming-Sparte ist eine wirksame Beruhigungspille für die Anleger, denn der Konzern hatte mit Beginn der Corona-Krise durch die Schließung seiner Vergnügungsparks empfindliche Verluste eingefahren. Doch nun hat sich in nur einem Jahr Disney Plus als ernst zu nehmender Konkurrent gegen die bisherigen Platzhirsche Netflix und Amazon Prime etabliert.
Jetzt startet man im Kampf um die globale Abonnentenschar eine neue Offensive. Galt Disney Plus bisher als Hafen für familienfreundliche Unterhaltung, in dem die lieben Kleinen gefahrlos herumbrowsen konnten, während Mami und Papi am Küchentisch ihr Homeoffice aufbauten, sollen nun mit einer eigenen Erwachsenensparte weitere Zuschauerkreise erschlossen werden. Im Marketing-Jargon des Unternehmens wird von einer „neuen Welt“gesprochen, die sich unter dem Markennamen „Star“dem geneigten Publikum eröffnen soll und mit einem eigenen Kennwort je nach Altersfreigabe vor unbefugtem Zugriff geschützt werden kann. Zum Start am 23. Februar werden über 55 Serien, mehr als 270 Filme und einige neue Originalproduktionen eingespeist. Und es sollen monatlich mehr werden.
Die enorme Content-Masse, mit der Disney Plus die globale Streaming-Community überschüttet, ist das Ergebnis einer Langzeitstrategie, die der Konzern in den letzten beiden Jahrzehnten vorangetrieben hat. Während ein DVD-Verleih namens Netflix sich auf Kredit zum globalen Streaming-Dienst hocharbeitete, ging Disney mit einer prall gefüllten Brieftasche auf Shopping-Tour. 1996 erwarb der Konzern den TV-Sender ABC, 2006 Pixar, 2009 Marvel, 2012 Lucasfilm mit dem „Star Wars“-Imperium und schließlich 2019 den gesamten Lizenzbestand der altehrwürdigen 20th Fox.
Vor allem aus Letzterem wird nun das neue „Star“-Angebot bestückt. Neben 20th Television, die Serien wie „Buffy – Im Bann der Dämonen“, „Akte X“, „How I Met Your Mother“, „Simpsons“und „Prison Break“produziert haben, gehören zum Fox-Bestand auch FX-Productions, die Hits wie „Sons of Anarchy“, „Atlanta“und alle zehn Staffeln von „The Walking Dead“beisteuern. Ein großer Teil der hochgeladenen Serien stammt aus dem Vermögen des TV-Senders ABC, wo man mit „Grey’s Anatomy“, „Desperate Housewifes“, „Scandal“und „Lost“entscheidend zum Serienboom der letzten Jahrzehnte beigetragen hat.
Aber natürlich begnügt man sich im „Star“-Segment nicht nur mit Archivverwaltung. Mit neuen Eigenproduktionen wie der schwulen High-School-Romanze „Love, Victor“und der Thrillerserie „Big Sky“versucht man sich auf dem Markt der Neuerscheinungen zu positionieren. Und genau wie Netflix und Amazon nutzt nun auch Disney Plus den Produktionsstandort Deutschland, um regionale Stoffe mit internationaler Reichweite umzusetzen. Mit „Sam – Ein Sachse“kündigte man die Produktion einer True-Story-Serie über Samuel Meffire an, der nach der Wiedervereinigung als erster schwarzer Polizist Ostdeutschlands gefeiert wurde und wenige Jahre später im Gefäng-der nis landete. Mal sehen, was Disney daraus macht.
Aber nicht nur die Binge-Watching-Gemeinde wird mit dem „Star“-Angebot gemästet, auch Kinofans kommen auf ihre Kosten. Aus dem Programm der Fox Searchlight-Studios landen auch Perlen der jüngeren Filmgeschichte auf der Plattform, darunter Baz Luhrmans „Moulin Rouge“, Tim Burtons „Ed Wood“, Meryl Streep in „Der Teufel trägt Prahda“, die Kazuo-Ishiguro-Verfilmung „Alles was wir geben mussten“sowie einen Großteil der Filme von Wes Anderson, von „Darjeeling Limited“bis „Grand Budapest Hotel“.
Das alles gibt es natürlich nicht umsonst. Der Abopreis für Disney Plus erhöht sich ab 23. Februar für Neueinsteiger von 6,99 Euro pro Monat (beziehungsweise 69,99 Euro pro Jahr) auf 8,99 Euro (89,90 Euro). Dafür prahlt das Mouse-House mit schwindelerregenden Zahlen: 1100 Filme sowie 280 Serien mit über 13000 Episoden befinden sich ab dieser Woche auf dem Konzernserver. Genug, um noch ein paar Pandemien und ihre Mutationen zu überstehen. Aber ein Film fehlt: „Der Junge muss an die frische Luft“.
Auch an die Fans des Kinos ist gedacht