Guenzburger Zeitung

Die Politik tappt in ihre eigene Corona-Falle

Leitartike­l Das ewige „Auf-Sicht-Fahren“zwischen Lockdown und Lockern wird immer riskanter. Rächt sich einmal mehr, dass Deutschlan­d sich in falscher Sicherheit wiegt?

- VON MICHAEL POHL pom@augsburger‰allgemeine.de

Auf Sicht fahren“nennen Kanzlerin Angela Merkel und viele Ministerpr­äsidenten ihre Art, in der Corona-Pandemie kurzfristi­g und flexibel Politik zu machen. Für Autofahrer mag sich das Sprachbild noch einigermaß­en beruhigend anhören, wenn man nicht weiß, was als Nächstes um die Kurve kommt. Denkt man an eine Fahrt auf hoher See in stürmische­n Krisengewä­ssern, wird einem schon mulmiger. Denn tatsächlic­h fehlt der Bundespoli­tik auch nach einem Jahr Pandemie offensicht­lich ein klarer Kompass: Man lässt den Dampfer in der Hoffnung treiben, bald in ruhigeres Fahrwasser zu kommen.

Doch das Prinzip „auf Sicht fahren“hat sich bereits mehrfach gerächt: Kam in der ersten Welle noch der Staatsanwa­lt bei einem Dutzend Todesfälle­n in einem Seniorenhe­im,

war dies im Winter maximal ein Thema für die Randspalte. Dass die Bundesrepu­blik in der zweiten Welle zeitweise mehr Corona-Tote pro Einwohner als Schweden und die USA zählte, zeigt, wie wenig erfolgreic­h das Pandemie-Management war. Noch höher waren die Sterbezahl­en in Irland und Großbritan­nien – eine Warnung an alle, die „britische“Virusmutat­ion noch immer zu unterschät­zen.

In Irland und Großbritan­nien laufen die Massenimpf­ungen deshalb als Rennen gegen die Zeit. In Deutschlan­d nimmt dagegen alles, wie in Arbeitskre­isen geregelt, so geordnet wie gemächlich seinen Gang. Das „Auf-Sicht-Fahren“vermittelt dabei ein trügerisch­es Gefühl vermeintli­cher Sicherheit.

Bund und Länder verließen sich darauf, dass Massenimpf­ungen im Sommer das Corona-Problem schon lösen werden und zuvor ein milder Frühling wie in der ersten Welle die Lage entspannt. Die um die Kurve gekommene Virusmutat­ion hat die Auf-Sicht-Fahrer überrascht – trotz zahlreiche­r Warnschild­er, die es seit dem Ausbruch in Irland gab.

Es rächt sich spätestens jetzt, dass im falschen Sicherheit­sgefühl neben der Impfstrate­gie kein zweites Sicherheit­snetz eingezogen wurde: Zum Beispiel mit bundesweit symptomlos­en PCR-Tests, massenhaft­en Schnelltes­ts, digitaler Hochrüstun­g der Gesundheit­sämter oder Apps mit automatisc­her Kontaktver­folgung, die eine Öffnung der Läden und Gastronomi­e erleichter­n würden. In all diesen Punkten läuft die Politik der Entwicklun­g weit hinterher. Vom Improvisat­ionsdrama um den Schulunter­richt ganz zu schweigen.

Eine von vielen Kritikern geforderte große „Strategie“dürfte angesichts vieler sich ändernder Herausford­erungen zwar zu viel verlangt sein. Erwarten dürfen die Bürger aber, dass sich die verantwort­lichen Stellen parallel auf verschiede­nen Ebenen auf alle absehbaren Eventualit­äten vorbereite­n. Mit Appellen an die Eigenveran­twortung lässt sich keine Pandemie stoppen.

Stattdesse­n unterschät­zen viele Verantwort­liche das Coronaviru­s und seine Mutationen noch immer. Politiker rufen nun wie im Sommer in den Ländern nach dem Prinzip Hoffnung einen Lockerungs­wettbewerb aus, ohne dafür rechtzeiti­g das notwendige zweite Sicherheit­snetz neben den Impfungen aufgespann­t zu haben. Und man kann für die bereits geimpften Hochrisiko­gruppen nur hoffen, dass die wenigen Wochen seit den Spritzen für den Aufbau von genug Immunschut­z ausreichen.

Fast alle Parteien, die in Bund und Ländern in Regierungs­verantwort­ung sind, drohen ein weiteres Mal in die Falle ihrer eigenen Corona-Politik aus Lockdowns und Lockerunge­n zu tappen: Sie schüren große Erwartunge­n und stehen am Ende wieder unvorberei­tet da. Angesichts von Mutationen und vieler unterlasse­ner Schutzmögl­ichkeiten ist dieser Kurs riskanter denn je. Auf Sicht regiert in Deutschlan­d das Prinzip Hoffnung.

Wieder stehen die Verantwort­lichen unvorberei­tet da

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