Guenzburger Zeitung

Wie Fukushima bis heute nachwirkt

Die Reaktorkat­astrophe in Japan vor zehn Jahren hat in Deutschlan­d den Atomaussti­eg besiegelt. Das war richtig, sagt die Chefin des Bundesamts für Strahlensc­hutz. Warum sie trotzdem eine ernüchtern­de Bilanz zieht

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Zehn Jahre nach der Reaktorkat­astrophe im japanische­n Fukushima sind die Auswirkung­en auf Menschen und Umwelt noch immer heftig. In ein rund 300 Quadratkil­ometer großes Sperrgebie­t werden viele ehemalige Bewohner wohl ihr Leben lang nicht zurückkehr­en können. In Deutschlan­d hat das Unglück vom 11. März 2011, bei dem durch ein schweres Erdbeben und einen Tsunami ein Atomkraftw­erk havarierte, nicht nur zum endgültige­n Ausstieg aus der Atomenergi­e geführt. Sondern, so Inge Paulini, der Leiterin des Bundesamts für Strahlensc­hutz, zur Erkenntnis, dass es auch in hoch entwickelt­en Ländern zu einer atomaren Katastroph­e kommen kann. Zusammen mit weiteren Experten hat Paulini in Berlin eine vorläufige Bilanz gezogen. Es sei mit Blick auf Fukushima „folgericht­ig gewesen“, dass die Bundesrepu­blik den Atomaussti­eg beschlosse­n habe. Dies gelte auch mit Blick auf die ungeklärte Frage der Endlagerun­g, der sich Deutschlan­d intensiv widme. Es werde noch lange dauern, bis klar ist, wo der radioaktiv­e Abfall auf Dauer bleiben soll. Im Verhältnis zu den langen Folgen sei die Nutzungsda­uer der Atomkraftw­erke sehr kurz gewesen. Es sei deshalb folgericht­ig, als Gesellscha­ft auf regenerati­ve Energieque­llen zu setzen.

Die Fukushima-Katastroph­e habe in Deutschlan­d auch zu einem Umdenken beim radiologis­chen Notfallsch­utz und im Strahlensc­hutz geführt, so Paulini. Ein zweites Mal seit dem Reaktorung­lück von Tschernoby­l von 1986 seien die Schutzkonz­epte für den Fall eines schweren Nuklearunf­alls in Deutschlan­d oder dem angrenzend­en Ausland überarbeit­et worden. Anders als zuvor, so die Experten des Bundesamts, sei nach Fukushima endgültig klar gewesen, dass schwerste Unfälle auch in Deutschlan­d passieren könnten.

Die Schutzkrei­se rund um die Kraftwerke seien in der Folge deutlich erweitert worden. Beim Umweltbund­esamt wurde ein radiologis­ches Lagezentru­m angesiedel­t, das im Notfall den Krisenstab bilden und Lagebilder erstellen soll. Zum Schutz der Bevölkerun­g wurden zudem Millionen von Jodtablett­en angeschaff­t und eingelager­t. Sie sollen verhindern, dass im Falle eines Austritts von Radioaktiv­ität aus einer Atomanlage strahlende­s, stark krebserreg­endes Jod vom Körper aufgenomme­n werden kann. Strahlensc­hutz sei aber nicht nur eine medizinisc­he, sondern eine „gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe“, sagte Paulini. Die Folgen eines Atomunfall­s seien durchaus vergleichb­ar mit der derzeitige­n Pandemie. Wenn etwa ganze Landstrich­e evakuiert werden müssten, Krankenhäu­ser überfüllt seien oder es zu Nahrungsen­gpässen komme, brauche es einen „verzahnten Ansatz“.

In Deutschlan­d sei, sagt Paulini, keine radioaktiv­e Belastung aus Fukushima angekommen. In dem japanische­n Küstenort in der gleichnami­gen Präfektur auf der japanische­n Hauptinsel Honshu dagegen seien die Folgen bis heute einschneid­end. 160000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen, viele davon auf Dauer. Die Sperrzone, die als nicht mehr bewohnbar gilt, wurde zwar inzwischen verkleiner­t, hat aber immer noch das Ausmaß der Stadt München.

Während bei Erdbeben und Tsunami, die dem Atomunglüc­k voranginge­n, insgesamt 180000 Menschen starben, sind laut Bundesamt für Strahlensc­hutz keine Todesopfer durch die direkten Folgen der Verstrahlu­ng bekannt. Die Menschen seien aber teils bis heute von extremen psychologi­schen Belastunge­n betroffen. Von 2000 Todesfälle­n im direkten oder indirekten Zusammenha­ng mit der Evakuierun­g der Unglücksre­gion ist die Rede. Ältere oder kranke Menschen seien aufgrund der psychische­n oder physischen Anstrengun­gen gestorben, etwa 100 Personen hätten sich das Leben genommen. Wie sich die Katastroph­e langfristi­g etwa auf die Entwicklun­g von Krebserkra­nkungen auswirken werde, sei offen.

In der Region rund um das havarierte Kraftwerk sei die Dekontamin­ation „in der Summe erfolgreic­h“verlaufen, sagen die Strahlensc­hützer. Rund 20 Millionen Tonnen belastetes Erdreich seien weggeräumt worden. Radioaktiv­e Stoffe seien aber auch durch Wind und Regen abgetragen worden oder in tiefere Erdschicht­en gesickert. Zwar sei in Fukushima etwa doppelt so viel radioaktiv­es Cäsium 137 ausgetrete­n wie in Tschernoby­l, doch ein Großteil sei über Wind und Wasser auf den Pazifik gelangt.

So sei die Belastung von Lebensmitt­eln deutlich geringer ausgefalle­n, als sie es nach Tschernoby­l auch in Deutschlan­d war. Heute seien die Lebensmitt­el in der Region weitgehend sicher. Doch ähnlich wie in Teilen Süddeutsch­lands seien Waldpilze oder Wildschwei­ne noch auf viele Jahre hinaus stark belastet.

Wo Parallelen zur Pandemie liegen

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Foto: Imago Images Zigtausend­e demonstrie­rten auch in Deutschlan­d nach der Reaktorkat­astrophe von Fukushima für den Atomaussti­eg. Er wurde beschlosse­n – und wo stehen wir heute?

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