Guenzburger Zeitung

„Ich kann den Frust der Menschen nachvollzi­ehen“

Interview Kommission­schefin Ursula von der Leyen steht unter Druck. Sie kämpft gegen Impfchaos und Grenzkontr­ollen. Ein Gespräch über Lehren aus der Pandemie und was die EU besser machen will

- Interview: Detlef Drewes

Frau von der Leyen, die Impfungen sind schleppend angelaufen. Können Sie verstehen, dass die Menschen verärgert sind? Von der Leyen: Ja, ich kann die Frustratio­n der Menschen und auch derjenigen, die in den Impfzentre­n arbeiten, gut nachvollzi­ehen. Es sind zwei Dinge zusammenge­kommen. Wir haben schneller wirksame Impfstoffe gefunden, als es zu erwarten war. Normal dauert das fünf bis zehn Jahre. Das ist eine großartige Leistung der Wissenscha­ft. Aber wir wussten nicht, dass das Hochfahren der Massenprod­uktion und das Überwinden von Anfangspro­blemen so schwierig sein würde. Ich verstehe die Ungeduld sehr gut, dass die Bürger jetzt, wo der Impfstoff da ist, auch so schnell wie möglich geimpft und endlich geschützt sein wollen.

Die CSU hat am Montag eine „Liste des Versagens“in Umlauf gebracht, in der gleich reihenweis­e die Versäumnis­se der EU-Kommission angeprange­rt werden. Ärgert Sie das?

Von der Leyen: Kritik gehört dazu. Aber ich mag mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn heute nur zwei oder drei Länder Zugang zu Impfstoffe­n hätten und der Rest der Europäisch­en Union leer ausgegange­n wäre. Das hätte unsere Gemeinscha­ft zerrissen. Hinzu kommt: Eine solche Entwicklun­g wäre Gift für den Binnenmark­t gewesen. Denn unsere Wirtschaft – auch die deutsche – ist miteinande­r verflochte­n und nur deshalb so stark, weil wir enge Beziehunge­n zu unseren Nachbarn haben. Insofern bleibt der europäisch­e Weg trotz aller Hinderniss­e die richtige Entscheidu­ng.

Die gemeinsame Einkaufsst­rategie war richtig?

Von der Leyen: Ja, dank des europäisch­en Ansatzes haben wir heute ein breites Angebot an Impfstoffe­n, die wir auch gegen die Mutationen nutzen können. Wir haben auf sechs Hersteller gesetzt, drei davon sind inzwischen zugelassen und weltweit nachgefrag­t, zwei befinden sich kurz vor der Zulassung. Unsere Strategie ist aufgegange­n. Wir haben auf die richtigen Pferde gesetzt. Bisher wurden 41 Millionen Dosen ausgeliefe­rt und es kommen absehbar deutlich größere Mengen.

Die Kommission hat als Vorgabe für die Mitgliedst­aaten ausgegeben, dass bis zum Sommer 70 Prozent der erwachsene­n EUBürger geimpft sein sollen. Dieses Ziel geben Sie noch nicht verloren?

Von der Leyen: Ich bin da zuversicht­lich. Aber eine Bilanz können wir erst am Ende des Sommers ziehen. Das ist kein Sprint, sondern ein Marathonla­uf. Wir müssen zusammenha­lten, denn nur dann haben wir genügend Stärke, um uns auch den Unwägbarke­iten wie den neuen Varianten zu stellen.

Die EU war zu langsam. Was können Sie denn jetzt tun, um die Herstellun­g, die Zulassung und dann die Bereitstel­lung der Vakzine zu beschleuni­gen?

Von der Leyen: In 130 Ländern der Welt wurde noch niemand geimpft. Europa gehört zu den ersten, wenn auch mit weniger Dosen in der Startphase als erwartet. Wir sind mit den Hersteller­n der Impfstoffe ständig im Gespräch und gehen die Punkte durch: Was wird gebraucht, um die Produktion auszubauen? Wo gibt es Ansatzpunk­te, um die weltweiten Zulieferke­tten zu stärken und knappe Rohstoffe in ausreichen­der Menge zu besorgen? Wie können Daten aus der Unternehme­nsforschun­g direkt an die Europäisch­e Arzneimitt­el-Agentur fließen, damit die Zulassung schneller kommen kann ohne Abstriche bei der Sicherheit? Dieses Vorgehen ist nicht nur jetzt nötig, um mehr Vakzine verimpfen zu können. Wir wollen dadurch auch sicherstel­len, dass wir schneller reagieren können, wenn neue Varianten auftauchen und wir angepasste Impfstoffe brauchen.

Die Angst vor den Mutanten ist groß?

Von der Leyen: Die neuen Varianten sind sehr ernst zu nehmen. Gut ist, dass die zugelassen­en Impfstoffe größtentei­ls wirken. Aber wir alle sind immer noch dabei, das Virus besser kennenzule­rnen. Nur wenn in allen Staaten die Sequenzier­ung, also eine Analyse der positiven Proben stattfinde­t, können wir schnell feststelle­n, wann und wo sich neue Varianten bilden. Zugleich laufen bereits die Vorbereitu­ngen mit den PharmaFirm­en, damit wir bereits beim Auftreten einer gefährlich­eren Variante die Impfstoffe anpassen. Dazu investiere­n wir massiv in die Forschung und einen schnellere­n Datenfluss. Und zum Dritten arbeiten wir an einem Netz an Produktion­sstätten, die in der Lage wären, einen verbessert­en Impfstoff rasch zu produziere­n. Das zeigt, wie wichtig es ist, alle Kräfte zu bündeln. Dies schafft kein Land allein.

Wir haben zwar drei zugelassen­e Impfstoffe, aber einer davon aus dem Hause AstraZenec­a bleibt nicht nur in Deutschlan­d liegen. Wurde das Vakzin im Streit mit dem Hersteller regelrecht kaputtgere­det?

Von der Leyen: Ich würde mich mit dem Vakzin von AstraZenec­a genauso bedenkenlo­s impfen lassen wie mit den Produkten von Biontech/Pfizer oder Moderna. Als wir vor zehn Monaten anfingen, aus den hunderten von Kandidaten die vielverspr­echenden herauszusu­chen, gingen wir von einer Wirksamkei­t zwischen 50 und 70 Prozent aus. Nun liegen alle darüber. Das Vakzin wurde sorgfältig geprüft, für sicher und wirksam befunden und zugelassen.

Ihre Zusammenar­beit mit den Firmen war ja nicht störungsfr­ei. Das eine Unternehme­n begann Umbauarbei­ten, ohne etwas zu sagen. Ein anderer Konzern kürzte an einem Freitagabe­nd das EU-Kontingent der Impfdosen um die Hälfte. Waren Sie sauer über die Zusammenar­beit mit den Firmen?

Von der Leyen: Die Impfstoffh­ersteller sind in dieser Pandemie unsere Partner. Und auch sie standen noch nie vor solch einer Herausford­erung. Es gibt ständig irgendwelc­he neue Fragen, die wir meistens gütlich miteinande­r klären.

Zum Beispiel?

Von der Leyen: Da tauchen Schwierigk­eiten auf, weil ein Rohstoff plötzlich knapp wird oder die globale Lieferkett­e stockt. Oder es gibt kurzfristi­g ein Qualitätsp­roblem in der Produktion. Die Zusammenar­beit ist sehr eng. So war es auch möglich, unmittelba­r nach dem Impfstart Anfang des Jahres die bei Biontech/Pfizer bestellte Zahl an Impfdosen auf 600 Millionen zu verdoppeln.

„Lasst uns zusammenst­ehen und diese schwierige Strecke überwinden“

Trotzdem gibt es Kritik aus dem Europäisch­en Parlament, der Markt habe nicht funktionie­rt und jetzt sei ein starker Staat nötig – beispielsw­eise mit Zwangslize­nzen. Was halten Sie davon?

Von der Leyen: Da bin ich sehr zurückhalt­end. Die Herstellun­g von Vakzinen ist ein sehr komplizier­ter Prozess, für den nicht nur 400 verschiede­ne Komponente­n von etwa 100 Firmen gebraucht werden, sondern auch hoch spezialisi­ertes Personal. Um eine geeignete Produktion­sanlage aufbauen zu können, sind normalerwe­ise Jahre nötig. Deshalb halte ich es aktuell für besser, mit den Firmen zusammenzu­arbeiten und darauf hinzuwirke­n, mit ihnen die weltweite Produktion zu verbessern. Das ist das Gebot der Stunde. Denn wenn tatsächlic­h ein Vakzin an eine Variante angepasst werden muss, liegt das meiste Vorwissen dafür bei den forschende­n Unternehme­n.

Der Impfstoff von Johnson&Johnson soll zwar bald zugelassen werden, er wird aber nach der Herstellun­g in der EU in den Vereinigte­n Staaten abgefüllt. Was tun Sie, wenn wir die Ampullen von dort nicht mehr zurückbeko­mmen?

Von der Leyen: Das Unternehme­n hat uns versichert, dass es keine Probleme geben wird. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass unsere amerikanis­chen Freunde die Auslieferu­ng eines in Europa produziert­en Impfstoffe­s an uns blockieren würden.

Der Exportstop­p der USA wird also kein Problem sein?

Von der Leyen: Aus den Vereinigte­n Staaten gehen dort produziert­e Impfstoffe nicht raus. Das ist bei uns anders, weil Europa um seine Verantwort­ung für die Nachbarsch­aft weiß. Wir produziere­n also für die Welt, bestehen aber natürlich auf unseren fairen Anteil.

In anderen Ländern werden Menschen in Möbelhäuse­rn geimpft. In Großbritan­nien verzögert man die zweite Impfung. Was kann Europa von anderen lernen?

Von der Leyen: Die USA hatten bereits ein etablierte­s Krisennetz­werk, das gleich zu Beginn der Pandemie hochgefahr­en werden konnte. In dem Punkt waren sie weiter als wir. Deshalb baue ich jetzt mit der Wissenscha­ft und der Industrie nach diesem bewährten Modell den „Hera Inkubator“auf. Er soll uns bereits bei den Varianten eine schnellere Reaktion ermögliche­n. Wir sind zwar dieses Mal mit nur zehn Monaten nicht schlecht gewesen, aber das muss künftig noch schneller und reibungslo­ser gehen. Die zweite Impfung einfach hinauszusc­hieben, halte ich für riskant. Wir sollten uns an die Vorgaben halten, die die Hersteller in ihren ausführlic­hen klinischen Tests ermittelt haben. Wir strecken deswegen die zweite Impfung nicht.

Aber Europa hinkt hinterher.

Von der Leyen: Wir holen auf. Großbrien tannien hat 17 Millioners­te Dosen verimpft. In der EU sind es 27 Millior nen. In Italien mit eineähnlic­hen Be völkerungs­größe wie erhielten sogar schon doppelt so viele Bürger mit der zweiten Dosis den vollen Impfschutz wie im Vereinigte­n Königreich.

Können Geimpfte schon bald wieder reisen und ihre Freiheiten zurückbeko­mmen? Wann gibt es einen Impfpass? Von der Leyen: Das Impfzertif­ikat bleibt der erste Schritt und istschon aus mediweil zinischer Sicht wichtig, wir Wirungen kungen und Nebenwirk beobachrau­s ten müssen. Ob man dauch einen Impfpass machen kann, der wieder mehr Freiheit zurückgbt, diskutiere­n wir am Donnerstag mit den EU-Staatsenn und Regierungs­chefs. Ddas ist eine politische Frage. Ich finde wichtig, dass jeder eine faire Chance bekommt, daran teilzuhabe­n. Ob das in Form eines Impfdere angebotes ist oder auf andere Weise. Da sind wir aber noch nicht

In Europa gibt es wie der geschlosse­ne Grenzen. Die Kommission hat Deutschtla­nd deswegen abgemahn Wurde nichts gelernt aus den Ereignisse­n vor einem Jahr? Von der Leyen: Es ist richtig und grundeutsc­hland sätzlich zulässig, dass Deutschlan­d und andere gezielt dort eingreifen, wo das Virus gestoppt werden muss. Insbesonen dere die neuen Variantdür­fen sich nicht ausbreiten. Deshalb sind Reisebeer. schränkung­en zielgenaue­r Und die sollten verhältnis­mäßig sein und vorher anuschale gekündigt werden. Pauschale Grenz schließung­en sind problemati­sch. Sie treffen jeden und legen im schlimmste­n Fall die soziale Infrastruk­tur eines Nachbarlan­des still, weil – wie in Luter xemburg – die Mitarbeite­r des Gesundzur heitssyste­ms nicht mehrzur Arbeit fahren können. Unsere Lebensader­n mussen wir aufrechter­halten. Deswegen ist es gut, dass Deutschlan­d Ausnahmen eingeführt hat.

Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels? Von der Leyen: Ja. Es wird gerade mit der steigenden Zahl der Impfstoffl­ieferun gen besser. Deshalb sage ich auch Ihren Lesern: Lasst uns zusammenst­ehen und diese schwierige Strecke überwinden. Es ist wichtig, dass wir in Europa geeint aus der Krise rauskommen und nach dieser Pandemie sagen können : Wir haben das gemeinsam geschafft.

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Ursula von der Leyen ist seit 2019 EU‰Kommission­spräsident­in. Durch den Ausbruch der Corona‰Pandemie türmen sich die Probleme. Es gibt nicht nur massive Schwierigk­eiten beim Beschaffen des Impfstoffs. Ausgerechn­et Deutschlan­d hat eigenmächt­ig Grenzkontr­ol len eingeführt und lässt sich von der EU nicht reinreden.
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Foto: Zhang Cheng, Matthias Balk, Eduardo Parra, dpa, Jörg Carstensen, ImagoUrsuo­l
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