Am Ende
Der Kölner Kardinal Woelki ist zum Gesicht einer Kirche geworden, die im Umgang mit Missbrauchsfällen sträflich versagt. In seinem Bistum treten Katholiken nun scharenweise aus. Doch er ist nicht der Einzige, der in der Kritik steht. Und die Krise reicht
Köln/München Anfang 2019 war die Welt für den Kölner Erzbischof noch in bester Ordnung. Im Karnevalistengottesdienst im Dom überreichten Nachwuchs-Jecken Rainer Maria Kardinal Woelki ein Pittermännchen. Selige Zeiten auch für seine Pressestelle, die der nicht Kölner Öffentlichkeit gerne erklärte, was das ist: ein Fass Kölsch. Etwas später, im Herbst 2019, wurde Woelki auf Domradio.de, dem Sender seines Erzbistums, aus Anlass seiner Amtseinführung fünf Jahre zuvor regelrecht gefeiert. Er sei ein Vorkämpfer, was das Engagement für Flüchtlinge angehe, ein SocialMedia-Pionier. Und: Er forciere die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals der katholischen Kirche.
Inzwischen ist Woelki das Gesicht einer „moralischen Institution“, die nach wie vor Missbrauchstäter und Personalverantwortliche zu schützen scheint und Opfer abschätzig behandelt. So sieht es der Kölner Dieter Huland, so sehen es Frauen der Reform-Initiative Maria 2.0 aus München. So sehen es Tausende, die in diesen Wochen aus der Kirche austreten.
Seit Woelki vor fast einem Jahr ein fertiges unabhängiges Missbrauchsgutachten unter Verschluss nahm, wird er mit Kritik überzogen. Dabei ist er nicht der einzige Bischof, der Fehler gemacht hat. Essens Bischof Franz-Josef Overbeck und der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode räumten eigene gravierende Versäumnisse im Umgang mit Missbrauchsfällen ein. Der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx musste Versäumnisse eingestehen, die in seine Zeit als Bischof von Trier reichen. In München lässt er gerade ein Missbrauchsgutachten erstellen. Er wolle Klarheit bei Verantwortlichkeiten. „Das gilt selbstverständlich auch für meine Person“, sagte er.
Weit vorher hatte sein Mitbruder Woelki größtmögliche Aufklärung versprochen. Erstmals sollten die Namen hochrangiger Kirchenmänner genannt werden, die versagten, verheimlichten, vertuschten. Dann die Kehrtwende: Das von ihm bei einer Münchner Kanzlei beauftragte Gutachten habe „methodische Mängel“, es bestünden äußerungsrechtliche Bedenken. Woelki gab ein zweites Gutachten in Auftrag, das am 18. März vorgestellt werden soll. Er instrumentalisierte Missbrauchsopfer. Sie sollten seiner Entscheidung den Segen geben. Die Wirkung war verheerend. Woelki kann noch so sehr um Entschuldigung bitten: Viele nehmen ihm nicht mehr ab, dass er es aufrichtig meint.
Dabei hatte die katholische Kirche wegen des Missbrauchsskandals ohnehin an Vertrauen eingebüßt. Die deutschen Bischöfe stellten nicht von ungefähr einen „Studientag zu den Erfahrungen mit Kirchenaustritten und Kirchenverbleib“in den Mittelpunkt ihrer wegen der Corona-Pandemie rein digitalen Frühjahrsvollversammlung, die an diesem Donnerstag endet.
In Köln ist die Nachfrage nach Kirchenaustritten seit Monaten derart groß, dass das Amtsgericht jüngst darauf reagieren musste. Ab dem 1. März, teilte es mit, stünden rund 500 zusätzliche Termine jeweils für den März und den April zur Verfügung; die bisher rund 1000 Termine pro Monat reichten nicht aus. Und das in der Metropole des rheinischen Katholizismus. Die Rheinländer, hatte ein Kabarettist mal nur halb im Spaß gesagt, seien „chromosomal katholisch“.
Am vergangenen Freitag war es in Köln so weit, die Zusatztermine für Austrittswillige wurden um 10 Uhr zur Online-Buchung freigeschaltet – nach wenigen Minuten brach der Server zusammen. Nach Informationen unserer Redaktion gab es zeitgleich etwa 6000 Zugriffsversuche. Ein absolutes Novum.
Wer in Köln die Kirche verlassen will, dem wird etwas abverlangt. Weil eine Austrittserklärung „nur höchstpersönlich abgegeben werden“könne. Beim Amtsgericht oder einem Notar. 30 Euro kostet es überdies. Wer das auf sich nimmt, hat eine bewusste Entscheidung getroffen. Wie jene Kölnerinnen und Kölner, die nun von Zeitungsjournalisten und Fernsehteams interviewt werden. Diese filmen nicht länger bloß vor dem Dom, sondern selbst in der Kirchenaustrittsstelle, im Justizgebäude am Reichenspergerplatz. Man sieht Austrittswillige in den Fluren, FFP2-Masken vor Mund und Nase, manchen ist der Ärger ins Gesicht geschrieben.
Dieter Huland lässt sich von einem Fernsehreporter, der ihn im Gebäude angesprochen hat, begleiten. Es ist der 12. Februar. Mit seinem Fahrradhelm in den Händen tritt Huland in ein Zimmer ein, unterschreibt ein Schriftstück, das war’s.
Ein paar Tage danach sagt er am Telefon: „Gefühle hat man vorher.“Der 72-Jährige meint damit, dass er sich über seinen Austritt aus der katholischen Kirche seit langem Gedanken gemacht habe. Seit November bemühte er sich um einen Austrittstermin. An Weihnachten diskutierte er mit seinen Kindern. Es sei ihm nicht leichtgefallen. Im Unterschied zur Unterschrift im Amtsgericht. Die sei für ihn der Vollzug gewesen, der Endpunkt eines Entfremdungsprozesses, der vor vielen, vielen Jahren eingesetzt habe.
Dieter Huland, drei Kinder, sieben Enkel, war Amtsleiter Zentrale Dienste der Stadt Köln. Er spricht gefasst, wohlüberlegt. „Wenn ich das noch sagen darf“, sagt er mehrfach. Huland und seine Frau haben ihre Kinder „katholisch erzogen“. Seine Frau engagierte sich im Pfarrgemeinderat der Kirchengemeinde Zum Heiligen Geist im Kölner Stadtteil Zollstock. Huland erzählt von einem früheren „fortschrittlichen Pastor“, mit dem man über alles habe reden können, der neue Wege habe beschreiten wollen – und der deswegen versetzt worden sei. Er erwähnt den 2017 in Bad Füssing gestorbenen einstigen Kölner Kardinal Joachim Meisner, diese Ikone katholisch-konservativer Gläubiger.
Als Meisner 2015 in einem Interview gefragt wurde, was er dachte, als er 2010 vom flächendeckenden Missbrauch in der katholischen Kirche erfahren habe, antwortete er, er habe an eine Verleumdungskampagne gedacht. Dann sei er erschüttert gewesen. Ob er etwas geahnt habe? „Nichts geahnt, nichts geahnt!“, sagte er. Allein mit Blick auf die ihm mutmaßlich bekannten Fälle aus seinem Erzbistum eine gewagte, andere würden sagen dreiste Aussage. Meisner dürfte in dem von seinem Nachfolger Woelki unter Verschluss gehaltenen unabhängigen Missbrauchsgutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl eine unrühmliche Rolle spielen.
Das Fass zum Überlaufen, erzählt Dieter Huland, habe bei ihm Woelki gebracht. Dass dieser das Gutachten nicht veröffentliche und es nach Kräften schlechtrede, sei fatal. Die Wahrheit solle nicht ans Licht. „Ich bin wirklich angefressen“, sagt Huland. Eines, „wenn ich das noch sagen darf“, sei ihm aber wichtig zu betonen: „Der Austritt aus der Kirche ist für mich nicht identisch mit dem Ablegen meines Glaubens.“
Schon kurz vor dem Kirchenaustritt stand Katrin Richthofer aus München. Die 50-jährige Dokumentarfilmerin hat eine schwierige Geschichte mit der katholischen Kirche, wie sie sagt. Ihre Mutter war Religionslehrerin. Ihr Vater trat aus. Die Folge: Ihre Mutter durfte erst einmal nicht mehr unterrichten. Einen katholischen Priester, der heiratete und von seinen Pflichten und Rechten entbunden wurde, gibt es in ihrer Familie ebenfalls. Richthofer selbst ließ sich scheiden und heiratete 2015 erneut. Von der Institution Kirche habe sie sich danach wie eine Ausgestoßene behandelt gefühlt. Wobei: In ihrer Pfarrgemeinde im Münchner Stadtbezirk Ramersdorf-Perlach habe sie Glück mit dem Pfarrvikar. Er spende ihr sogar die Kommunion – was für wiederverheiratete Geschiedene, die nach Auffassung der katholischen Kirche in der Sünde des Ehebruchs leben, in Einzelfällen möglich ist. Er und diese Gemeinde seien der Grund, warum sie in der Kirche bleibe. Und die Reform-Initiative Maria 2.0, in der sie sich engagiert. Katrin Richthofer sagt: „Wenn ich austrete, kann ich nichts verändern. Ich will aber etwas verändern.“Wie eben Maria 2.0.
Am Sonntag haben gläubige Frauen in ganz Deutschland Thesenpapiere an Kirchentüren gehängt. Renate Spannig, die Sprecherin der kürzlich gegründeten Münchner Maria-2.0-Gruppe, zum Beispiel ans Hauptportal der Frauenkirche. Die „Rundschau“im BR Fernsehen und die „Tagesthemen“im Ersten berichteten. Ein Thesenanschlag 2.0, in Anspielung an den Reformer – erzkonservative Katholiken würden Kirchenspalter sagen – Martin Luther. Die Initiative, die 2019 von Münster ausging, fordert den Zugang von Frauen zu allen Ämtern der katholischen Kirche – sowie die umfassende Aufklärung von Taten sexualisierter Gewalt. Ursachen müssten konsequent bekämpft, Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden.
Renate Spannig hat das Thesenpapier mitverfasst. Sie ist überwältigt von den Reaktionen. Ihr MailPostfach quelle über, auch im Bistum Augsburg bildeten sich Maria2.0-Gruppen. „Die Stimmung ist wie 1989 beim Mauerfall“, sagt die 55-jährige Sozialpädagogin. Der Aufbruchstimmung stehe jedoch eine Angststimmung entgegen. In Altötting hätten sich Frauen nicht getraut, das Thesenpapier anzubringen. Gemeindemitglieder hätten ihnen bedeutet, man wolle keine Unruhestifterinnen. In Herrsching am Ammersee seien Aktivistinnen beschimpft worden.
Diese Aktivistinnen sind jene engagierten Frauen, denen die Kirche trotz allem nicht egal ist. Im Gegensatz zu vielen anderen. Die Zahl der Kirchenmitglieder ist in den vergangenen
Dieter Huland aus Köln sagt: „Ich bin angefressen“
Katrin Richthofer sagt: „Ich will etwas verändern“
Jahren massiv gesunken. Skandale trugen dazu bei. Neben wiederkehrenden Motiven wie nachlassender Bereitschaft, sich an Organisationen zu binden, oder der Kirchensteuer. Da niemand angeben muss, warum er der Kirche den Rücken kehrt, ist die Ursachenforschung kompliziert. Doch man kann einen Mixa-Effekt, einen TebartzEffekt und einen Woelki-Effekt sehen – ein regional oder bundesweit erhöhtes Austrittsaufkommen.
So war es beim Augsburger Bischof Walter Mixa, der 2010 nach Prügelvorwürfen dem Papst seinen Rücktritt anbot. So war es 2013, als der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst als „Prunk-Bischof“Schlagzeilen machte. So ist es im Erzbistum Köln. Dort gab es vergangenes Jahr knapp 7000 Austritte, 2019 waren es 10000. 2021 dürfte die Zahl weitaus höher sein.
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki, selbst unter Vertuschungsverdacht, hat seine Kirche in eine tiefe Krise gestürzt. Auf der Website des Amtsgerichts der Domstadt, auf der man Austrittstermine buchen kann, prangt noch am Dienstag der Hinweis: „Die Buchungsseite ist momentan leider nicht aufrufbar.“Zwischenzeitlich ist zu lesen: „Aktuell führen wir Wartungsarbeiten durch. Bitte haben Sie ein wenig Geduld.“
Das haben auch deutsche Bischöfe immer wieder ähnlich formuliert. Viele Kirchenmitglieder aber haben keine Geduld mehr mit ihnen.