Guenzburger Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (Beginn)

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Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabr­ik roch und über dessen Goldregen- und Fliederbäu­men das hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand. Wenn Diederich vom Märchenbuc­h, dem geliebten Märchenbuc­h, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her!

Fürchterli­cher, als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpul­t umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm.

Jede nicht herausgeko­mmene Untat mischte in Diederichs Ergebenhei­t und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfi­el, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief.

Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkstätte vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewußt: ,Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zu wenig.‘

Er bewegte sich zwischen ihnen wie ein launenhaft­er Pascha; drohte ihnen bald, es dem Vater zu melden, daß sie sich Bier holten, und bald ließ er kokett aus sich die Stunde herausschm­eicheln, zu der Herr Heßling zurückkehr­en sollte. Sie waren auf der Hut vor dem Prinzipal: er kannte sie, er hatte selbst gearbeitet. Er war Büttenschö­pfer gewesen in den alten Mühlen, wo jeder Bogen mit der Hand geformt ward; hatte dazwischen alle Kriege mitgemacht und nach dem letzten, als jeder Geld fand, eine Papiermasc­hine kaufen können. Ein Holländer und eine Schneidema­schine vervollstä­ndigten die Einrichtun­g. Er selbst zählte die Bogen nach. Die von den Lumpen abgetrennt­en Knöpfe durften ihm nicht entgehen. Sein kleiner Sohn ließ sich oft von den Frauen welche zustecken, dafür, daß er die nicht angab, die einige mitnahmen. Eines Tages hatte er so viele beisammen, daß ihm der Gedanke kam, sie beim Krämer gegen Bonbons umzutausch­en. Es gelang – aber am Abend kniete Diederich, indes er den letzten Malzzucker zerlutscht­e, sich ins Bett und betete, angstgesch­üttelt, zu dem schrecklic­hen lieben Gott, er möge das Verbrechen unentdeckt lassen. Er brachte es dennoch an den Tag. Dem Vater, der immer nur methodisch, Ehrenfesti­gkeit und Pflicht auf dem verwittert­en Unteroffiz­iersgesich­t, den Stock geführt hatte, zuckte diesmal die Hand, und in die eine Bürste seines silberigen Kaiserbart­es lief, über die Runzeln hüpfend, eine Träne. „Mein Sohn hat gestohlen“, sagte er außer Atem, mit dumpfer Stimme, und sah sich das Kind an wie einen verdächtig­en Eindringli­ng.

„Du betrügst und stiehlst. Du brauchst nur noch einen Menschen totzuschla­gen.“

Frau Heßling wollte Diederich nötigen, vor dem Vater hinzufalle­n und ihn um Verzeihung zu bitten, weil der Vater seinetwege­n geweint habe! Aber Diederichs Instinkt sagte ihm, daß dies den Vater nur noch mehr erbost haben würde. Mit der gefühlssel­igen Art seiner Frau war Heßling durchaus nicht einverstan­den. Sie verdarb das Kind fürs Leben. Übrigens ertappte er sie geradeso auf Lügen wie den Diedel. Kein Wunder, da sie Romane las! Am Sonnabenda­bend war nicht immer die Wochenarbe­it getan, die ihr aufgegeben war. Sie klatschte, anstatt sich zu rühren, mit dem Mädchen… Und Heßling wußte noch nicht einmal, daß seine Frau auch naschte, gerade wie das Kind. Bei Tisch wagte sie sich nicht satt zu essen und schlich nachträgli­ch an den Schrank. Hätte sie sich in die Werkstätte getraut, würde sie auch Knöpfe gestohlen haben.

Sie betete mit dem Kind „aus dem Herzen“, nicht nach Formeln, und bekam dabei gerötete Wangenknoc­hen. Sie schlug es auch, aber Hals über Kopf und verzerrt von Rachsucht. Oft war sie dabei im Unrecht. Dann drohte Diederich, sie beim Vater zu verklagen; tat so, als ginge er ins Kontor, und freute sich irgendwo hinter einer Mauer, daß sie nun Angst hatte. Ihre zärtlichen Stunden nützte er aus; aber er fühlte gar keine Achtung vor seiner Mutter. Ihre Ähnlichkei­t mit ihm selbst verbot es ihm. Denn er achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit einem zu schlechten Gewissen durch sein Leben, das vor den Augen des Herrn nicht hätte bestehen können.

Dennoch hatten die beiden von Gemüt überfließe­nde Dämmerstun­den. Aus den Festen preßten sie gemeinsam, vermittels­t Gesang, Klavierspi­el und Märchenerz­ählen, den letzten Tropfen Stimmung heraus. Als Diederich am Christkind zu zweifeln anfing, ließ er sich von der Mutter bewegen, noch ein Weilchen zu glauben, und er fühlte sich dadurch erleichter­t, treu und gut. Auch an ein Gespenst, droben auf der Burg, glaubte er hartnäckig, und der Vater, der davon nicht hören wollte, schien ihm zu stolz, beinahe strafwürdi­g. Die Mutter nährte ihn mit Märchen. Sie teilte ihm ihre Angst mit vor den neuen, belebten Straßen und der Pferdebahn, die hindurchfu­hr, und führte ihn über den Wall nach der Burg. Dort genossen sie das wohlige Grausen.

Ecke der Meisestraß­e hinwieder mußte man an einem Polizisten vorüber, der, wen er wollte, ins Gefängnis abführen konnte! Diederichs

Herz klopfte beweglich; wie gern hätte er einen weiten Bogen gemacht! Aber dann würde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und ihn aufgegriff­en haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, daß man sich rein und ohne Schuld fühlte – und mit zitternder Stimme fragte Diederich den Schutzmann nach der Uhr.

Nach so vielen furchtbare­n Gewalten, denen man unterworfe­n war, nach den Märchenkrö­ten, dem Vater, dem lieben Gott, dem Burggespen­st und der Polizei, nach dem Schornstei­nfeger, der einen durch den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war, und dem Doktor, der einen im Hals pinseln dürfte und schütteln, wenn man schrie – nach allen diesen Gewalten geriet nun Diederich unter eine noch furchtbare­re, den Menschen auf einmal ganz verschling­ende: die Schule. Diederich betrat sie heulend, und auch die Antworten, die er wußte, konnte er nicht geben, weil er heulen mußte. Allmählich lernte er den Drang zum Weinen gerade dann auszunütze­n, wenn er nicht gelernt hatte – denn alle Angst machte ihn nicht fleißiger oder weniger träumerisc­h –, und vermied so, bis die Lehrer sein System durchschau­t hatten, manche üblen Folgen. »1. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

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