Jamaika – das neue Ziel der FDP
Leitartikel Lieber nicht regieren als falsch zu regieren? 2017 haben sich die Liberalen einer Koalition mit der Union und den Grünen noch verweigert. Nun ist sie ein Muss
Parteivorsitzende werden nicht an Umfragen gemessen, sondern an Wahlergebnissen. So wie Armin Laschet für die Union das Kanzleramt verteidigen muss, hat auch Christian Lindner ein klar umrissenes Ziel: Die FDP nach vier Jahren in der außerparlamentarischen und vier Jahren in der parlamentarischen Opposition zurück in eine Regierung zu führen. Eine weitere Legislatur im politischen Niemandsland würde die Partei ihm vermutlich nicht verzeihen – auch wenn sie ihn am Wochenende erst einmal für weitere zwei Jahre in seinem Amt bestätigen wird.
Die Situation ist verzwickt, für Lindner persönlich wie für die Liberalen insgesamt. In einer Zeit, in der der Staat die Grundrechte seiner Bürger so massiv einschränkt wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik, ist die FDP zwar die einzige Stimme der Freiheit im Chor der Abriegler, Ausgangssperrer und Kontaktbeschränker. Die auch daraus resultierenden Umfragewerte von elf bis zwölf Prozent aber sind politisch bisher nicht viel wert. Für eine Neuauflage der schwarz-gelben Koalition ist die Union zu schwach, bei SchwarzGrün oder Grün-Schwarz ist die FDP aus dem Spiel – und ein Ampelbündnis mit Sozialdemokraten und Grünen birgt für sie mehr Risiken als Chancen, weil sie gegen zwei linke Partner kaum einen Stich machen würde. Lindner kann es drehen und wenden, wie er will: Die einzig realistische Machtperspektive für die FDP ist genau die Jamaika-Koalition mit Grünen und Konservativen, die er vor vier Jahren in letzter Minute noch hat platzen lassen. Motto: Lieber nicht regieren als falsch zu regieren.
Was damals falsch war, kann heute aber durchaus richtig sein – vorausgesetzt, die Grünen verspielen auf den letzten Metern noch so viele Sympathien, dass es für sie mit der Union alleine nicht reicht. Die FDP als ausgleichendes Element zwischen einem konservativen und einem links-grünen Block, als Stimme der ökonomischen Vernunft, die Steuererhöhungen verhindert und beim Klimaschutz darauf achtet, dass der Staat es mit seiner Regelungswut nicht übertreibt: So in etwa, darf man annehmen, stellt Lindner sich die neue Rolle der Liberalen vor. Dazu aber muss er nicht nur frustrierte Anhänger der
Union einsammeln, sondern auch im Revier der Grünen wildern.
Im urban-hedonistischen Milieu der großen Städte gibt es durchaus Grünen-Wähler, für die der Weg zur FDP nicht allzu weit ist. Die es zwar irgendwie schick finden, grün zu stimmen, sich aber gleichzeitig fragen, ob der Klimaschutz nur mit noch höheren Steuern und persönlichen Einschränkungen erkauft werden kann. Die sich wundern, warum die Grünen als Oppositionspartei
die Corona-Politik der Regierung tolerieren statt sie zu kritisieren. Die das Gendern für keinen zivilisatorischen Fortschritt halten, sondern für Raubbau an der Sprache. Um diese potenziellen Wechselwähler aber bemüht die FDP sich bisher viel zu wenig. Sie spricht sie, salopp gesagt, gar nicht an. Weder im Ton noch in der Sache.
Auch wenn in den Umfragen nicht mehr viel fehlt zu den 14,6 Prozent, die die Partei 2009 mit Guido Westerwelle an der Spitze eingefahren hat – die Lust am Konfrontativen, die jedem Wahlkampf erst seinen Reiz verleiht, ist bei den Lindner-Liberalen nicht allzu ausgeprägt. Alleine der stellvertretende Vorsitzende Wolfgang Kubicki würzt die politische Debatte regelmäßig mit pointierten bis polarisierenden Beiträgen. Der große Rest der FDP wirkt fünf Monate vor der Wahl noch seltsam verzagt, um nicht zu sagen diplomatisch-bieder. Eine Oppositionspartei aber, die schon wie eine Regierungspartei klingt, hat Deutschland mit den Grünen bereits. Ihnen sollte die FDP besser nicht nacheifern.
In den Umfragen steht die Partei glänzend da