Guenzburger Zeitung

Die Hamas reißt den Gazastreif­en in den Abgrund

Mit den Attacken auf israelisch­e Städte stürzen die radikalen Islamisten die Palästinen­serregion in eine tiefe Krise. Wie es zu der neuen Eskalation des Nahost-Konfliktes kam und woher die Terrormili­zen ihre Raketen haben

- VON PIERRE HEUMANN

Tel Aviv Auch am fünften Tag der Kämpfe zwischen Israel und Palästinen­sern im Gazastreif­en zeichnet sich keine Waffenruhe ab. Die radikal-islamische Hamas, die den Küstenstre­ifen beherrscht, feuerte am Freitag erneut Raketen auf Israel. Schärfer als in den vergangene­n Tagen ging die israelisch­e Luftwaffe gegen die Terrormili­zen der Hamas und des Islamische­n Dschihad vor. Laut offizielle­n Angaben griffen 160 Kampf-Jets 150 Ziele im Küstenstre­ifen an. Im Visier hatten die Jets das ausgedehnt­e Tunnelnetz­werk im Norden des Gazastreif­ens. Dabei handle es sich um eine „strategisc­he“Infrastruk­tur der Hamas, so ein Armeesprec­her, weil die Tunnel von der Islamisten-Führung als Zufluchtso­rt benutzt und als Waffenlage­r eingesetzt würden.

Sicherheit­sexperten gehen davon aus, dass die Islamisten im Gazastreif­en über eine beträchtli­che Menge an Raketen verfügen, obwohl sie seit Montagaben­d schon mehr als 1600 davon auf Israel abgefeuert haben, auch auf Jerusalem und Tel Aviv. Dass dabei bislang vergleichs­weise wenige Zivilisten umgekommen sind, liegt daran, dass das Raketenabw­ehrsystem Eisenkuppe­l („Iron Dome“) im Schnitt rund 90 Prozent der Raketen im Anflug zerstört.

Zwei ungleiche Gegner stehen sich gegenüber. Hier die hochgerüst­ete, moderne israelisch­e HightechAr­mee, dort die Terrormili­zen der Radikal-Islamisten. Ihre Raketen sind zwar nicht „smart“. Aber ein israelisch­er Offizier vergleicht die Feuerkraft der Terrormili­z Hamas mit derjenigen eines kleinen europäisch­en Landes. Der größte Teil der Raketen, die die Islamisten abfeuern, ist „made in Gaza“, hergestell­t mit iranischem Know-how und teilfinanz­iert mit Geldern aus Katar. Diese wurden, mit Zustimmung Israels, kofferweis­e nach Gaza transporti­ert. Zum Arsenal der Hamas gehören aber auch Raketen, die aus dem Iran geschmugge­lt werden.

Die Asymmetrie hat nicht nur einen militärisc­hen Aspekt. Auf der einen Seite steht die internatio­nal wettbewerb­sfähig Start-up-Nation, auf der anderen der von ausländisc­her Hilfe völlig abhängige NichtStaat Gaza. Israel kann die Kosten der Kampfhandl­ungen mühelos wegstecken, für die Palästinen­ser sind sie aber eine Katastroph­e. Man könne zum jetzigen Zeitpunkt zwar das Ausmaß des Schadens für den Küstenstre­ifen nicht abschätzen, sagt eine Sprecherin der Weltbank, weil das Ende der Militärope­ration noch nicht absehbar sei. Doch als sicher gilt schon jetzt, dass die Region Jahre zurückgewo­rfen wurde. Mit ihrem Entscheid, Jerusalem und Tel Aviv zu attackiere­n und Millionen von Israelis in die Luftschutz­keller zu zwingen, ging die HamasFühru­ng enorm hohe Risiken ein. Seit Jahren feuert sie Raketen auf Israel ab, in der Regel aber nur in peripheren Regionen im Süden des Landes, die an den Gazastreif­en grenzen. Darauf hatte Israel stets relativ zahm reagiert. Doch nachdem die Islamisten auch die Metropolen Jerusalem und Tel Aviv unter Beschuss genommen haben, will sich Israel nicht mehr zurückhalt­en. Die Militärs wollen das Abschrecku­ngspotenzi­al aufbauen, das ihrer Meinung nach in den vergangene­n Jahren verloren gegangen ist.

Mit den massiven Angriffen gefährdet die Hamas auch die internatio­nale Hilfe, auf die Gaza dringend angewiesen ist. In den vergangene­n Monaten hatte sich die Wirtschaft dort – auf tiefem Niveau – etwas vom Corona-Schock erholt, meint Israels führende Wirtschaft­szeitung Globes. Der Export verzeichne­te „hohe Wachstumsr­aten“, vor allem bei Textilien und landwirtsc­haftlichen Produkten. Die Gewalt hat nun aber zur Folge, dass bereits bewilligte Infrastruk­turprojekt­e bis auf Weiteres eingefrore­n werden, schreibt Globes.

Dass Israel Raketenang­riffe auf Tel Aviv und Jerusalem nicht tatenlos hinnehmen würde, muss die Hamas gewusst haben. Alle bisherigen Waffengäng­e, die von den Islamisten provoziert worden waren, haben gewaltige Opfer abverlangt. Doch die Hamas ließ sich dadurch nicht beirren. Einmal mehr hat sie den Küstenstre­ifen mitsamt seinen Bewohnern in den Abgrund gerissen. Ihr Ziel ist es, sich in der muslimisch­en Welt als Vorreiteri­n für die muslimisch­e Herrschaft über Palästina zu profiliere­n – Jerusalem inklusive. Die Geschosse und die dazu geum hörende Infrastruk­tur kosten viel Geld.

Gleichzeit­ig wird der Westen mit dem Argument regelrecht angebettel­t, die Palästinen­ser im Küstenstre­ifen seien unterdrück­t und arm. Dann heißt es beispielsw­eise, Gaza brauche „dringend Unterstütz­ung“, um den Impfstoff gegen Covid-19 zu beschaffen, oder Gaza sei auf die Hilfe Europas angewiesen, um Nahrungsmi­ttel für die Bevölkerun­g zu beschaffen, oder Gaza brauche Devisen, um die Armut zu bekämpfen. Dabei hat der Mangel, wie die Hamas in diesen Tagen einmal mehr beweist, einen einzigen Grund: Die Radikal-Islamisten ziehen es vor, ihre Aufrüstung zu finanziere­n, statt sich um das Wohl der Palästinen­ser zu kümmern.

Die Hamas nutzt dabei den Konflikt um Jerusalem aus, der in den letzten Wochen wieder aufgeflamm­t ist. Erstmals profiliert sie sich als Hüterin des für den Islam drittwicht­igsten Heiligtums, die Al-Aksa-Moschee. Als die Polizei in einer für Muslime heiligen Ramadan-Nacht die Moschee in der Jerusaleme­r Altstadt stürmte, um für Ruhe zu sorgen, fühlten sich die Palästinen­ser provoziert. Sie bewarfen die Uniformier­ten mit Steinen, die sie in der Moschee gestapelt hatten. Palästinen­serpräside­nt Mahmoud Abbas verhielt sich passiv. Die Hamas sah deshalb ihre Chance gekommen. Am Montag feuerte sie zum ersten Mal seit sieben Jahren Raketen auf Jerusalem ab. Sie war davon ausgegange­n, dass Israels Übergangsr­egierung, die nach vier ergebnislo­sen Wahlen gelähmt ist, nicht so schnell reagieren würde.

Das Klima war schon zuvor gespannt gewesen. Palästinen­ser hatten seit Wochen gegen die geplante Räumung palästinen­sischer Familien aus dem Sheikh-Jarrah-Viertel in OstJerusal­em protestier­t, was zu Zusammenst­ößen mit der israelisch­en Polizei und rechtsextr­emen Aktivisten führte. Übergriffe durch jüdische und arabische Straßenmob­s in Jerusalem erhöhten die Spannungen, die während des Monats Ramadan in der Regel auch ohne Provokatio­n schon hoch sind, zusätzlich.

Die Region wird um Jahre zurückgewo­rfen

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Foto: Mohammed Talatene, dpa Kinder auf den Trümmern eines durch einen israelisch­en Beschuss zerstörten Gebäu‰ des in Gaza‰Stadt.

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