Die Hamas reißt den Gazastreifen in den Abgrund
Mit den Attacken auf israelische Städte stürzen die radikalen Islamisten die Palästinenserregion in eine tiefe Krise. Wie es zu der neuen Eskalation des Nahost-Konfliktes kam und woher die Terrormilizen ihre Raketen haben
Tel Aviv Auch am fünften Tag der Kämpfe zwischen Israel und Palästinensern im Gazastreifen zeichnet sich keine Waffenruhe ab. Die radikal-islamische Hamas, die den Küstenstreifen beherrscht, feuerte am Freitag erneut Raketen auf Israel. Schärfer als in den vergangenen Tagen ging die israelische Luftwaffe gegen die Terrormilizen der Hamas und des Islamischen Dschihad vor. Laut offiziellen Angaben griffen 160 Kampf-Jets 150 Ziele im Küstenstreifen an. Im Visier hatten die Jets das ausgedehnte Tunnelnetzwerk im Norden des Gazastreifens. Dabei handle es sich um eine „strategische“Infrastruktur der Hamas, so ein Armeesprecher, weil die Tunnel von der Islamisten-Führung als Zufluchtsort benutzt und als Waffenlager eingesetzt würden.
Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass die Islamisten im Gazastreifen über eine beträchtliche Menge an Raketen verfügen, obwohl sie seit Montagabend schon mehr als 1600 davon auf Israel abgefeuert haben, auch auf Jerusalem und Tel Aviv. Dass dabei bislang vergleichsweise wenige Zivilisten umgekommen sind, liegt daran, dass das Raketenabwehrsystem Eisenkuppel („Iron Dome“) im Schnitt rund 90 Prozent der Raketen im Anflug zerstört.
Zwei ungleiche Gegner stehen sich gegenüber. Hier die hochgerüstete, moderne israelische HightechArmee, dort die Terrormilizen der Radikal-Islamisten. Ihre Raketen sind zwar nicht „smart“. Aber ein israelischer Offizier vergleicht die Feuerkraft der Terrormiliz Hamas mit derjenigen eines kleinen europäischen Landes. Der größte Teil der Raketen, die die Islamisten abfeuern, ist „made in Gaza“, hergestellt mit iranischem Know-how und teilfinanziert mit Geldern aus Katar. Diese wurden, mit Zustimmung Israels, kofferweise nach Gaza transportiert. Zum Arsenal der Hamas gehören aber auch Raketen, die aus dem Iran geschmuggelt werden.
Die Asymmetrie hat nicht nur einen militärischen Aspekt. Auf der einen Seite steht die international wettbewerbsfähig Start-up-Nation, auf der anderen der von ausländischer Hilfe völlig abhängige NichtStaat Gaza. Israel kann die Kosten der Kampfhandlungen mühelos wegstecken, für die Palästinenser sind sie aber eine Katastrophe. Man könne zum jetzigen Zeitpunkt zwar das Ausmaß des Schadens für den Küstenstreifen nicht abschätzen, sagt eine Sprecherin der Weltbank, weil das Ende der Militäroperation noch nicht absehbar sei. Doch als sicher gilt schon jetzt, dass die Region Jahre zurückgeworfen wurde. Mit ihrem Entscheid, Jerusalem und Tel Aviv zu attackieren und Millionen von Israelis in die Luftschutzkeller zu zwingen, ging die HamasFührung enorm hohe Risiken ein. Seit Jahren feuert sie Raketen auf Israel ab, in der Regel aber nur in peripheren Regionen im Süden des Landes, die an den Gazastreifen grenzen. Darauf hatte Israel stets relativ zahm reagiert. Doch nachdem die Islamisten auch die Metropolen Jerusalem und Tel Aviv unter Beschuss genommen haben, will sich Israel nicht mehr zurückhalten. Die Militärs wollen das Abschreckungspotenzial aufbauen, das ihrer Meinung nach in den vergangenen Jahren verloren gegangen ist.
Mit den massiven Angriffen gefährdet die Hamas auch die internationale Hilfe, auf die Gaza dringend angewiesen ist. In den vergangenen Monaten hatte sich die Wirtschaft dort – auf tiefem Niveau – etwas vom Corona-Schock erholt, meint Israels führende Wirtschaftszeitung Globes. Der Export verzeichnete „hohe Wachstumsraten“, vor allem bei Textilien und landwirtschaftlichen Produkten. Die Gewalt hat nun aber zur Folge, dass bereits bewilligte Infrastrukturprojekte bis auf Weiteres eingefroren werden, schreibt Globes.
Dass Israel Raketenangriffe auf Tel Aviv und Jerusalem nicht tatenlos hinnehmen würde, muss die Hamas gewusst haben. Alle bisherigen Waffengänge, die von den Islamisten provoziert worden waren, haben gewaltige Opfer abverlangt. Doch die Hamas ließ sich dadurch nicht beirren. Einmal mehr hat sie den Küstenstreifen mitsamt seinen Bewohnern in den Abgrund gerissen. Ihr Ziel ist es, sich in der muslimischen Welt als Vorreiterin für die muslimische Herrschaft über Palästina zu profilieren – Jerusalem inklusive. Die Geschosse und die dazu geum hörende Infrastruktur kosten viel Geld.
Gleichzeitig wird der Westen mit dem Argument regelrecht angebettelt, die Palästinenser im Küstenstreifen seien unterdrückt und arm. Dann heißt es beispielsweise, Gaza brauche „dringend Unterstützung“, um den Impfstoff gegen Covid-19 zu beschaffen, oder Gaza sei auf die Hilfe Europas angewiesen, um Nahrungsmittel für die Bevölkerung zu beschaffen, oder Gaza brauche Devisen, um die Armut zu bekämpfen. Dabei hat der Mangel, wie die Hamas in diesen Tagen einmal mehr beweist, einen einzigen Grund: Die Radikal-Islamisten ziehen es vor, ihre Aufrüstung zu finanzieren, statt sich um das Wohl der Palästinenser zu kümmern.
Die Hamas nutzt dabei den Konflikt um Jerusalem aus, der in den letzten Wochen wieder aufgeflammt ist. Erstmals profiliert sie sich als Hüterin des für den Islam drittwichtigsten Heiligtums, die Al-Aksa-Moschee. Als die Polizei in einer für Muslime heiligen Ramadan-Nacht die Moschee in der Jerusalemer Altstadt stürmte, um für Ruhe zu sorgen, fühlten sich die Palästinenser provoziert. Sie bewarfen die Uniformierten mit Steinen, die sie in der Moschee gestapelt hatten. Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas verhielt sich passiv. Die Hamas sah deshalb ihre Chance gekommen. Am Montag feuerte sie zum ersten Mal seit sieben Jahren Raketen auf Jerusalem ab. Sie war davon ausgegangen, dass Israels Übergangsregierung, die nach vier ergebnislosen Wahlen gelähmt ist, nicht so schnell reagieren würde.
Das Klima war schon zuvor gespannt gewesen. Palästinenser hatten seit Wochen gegen die geplante Räumung palästinensischer Familien aus dem Sheikh-Jarrah-Viertel in OstJerusalem protestiert, was zu Zusammenstößen mit der israelischen Polizei und rechtsextremen Aktivisten führte. Übergriffe durch jüdische und arabische Straßenmobs in Jerusalem erhöhten die Spannungen, die während des Monats Ramadan in der Regel auch ohne Provokation schon hoch sind, zusätzlich.
Die Region wird um Jahre zurückgeworfen