Schwaben im roten Bereich
Die Corona-Infektionszahlen lagen zuletzt deutlich über dem bayerischen Schnitt. Warum? Experten vermuten mehrere Ursachen. Jetzt sollen Sonderimpfungen helfen
Augsburg Für den Biergarten dürfte es am Wochenende zu regnerisch sein. Macht aber nichts, dann vertreiben sich die Münchner und Landsberger eben mit einem Besuch im Kino oder im Museum die Zeit. In großen Teilen Oberbayerns ist das nämlich erlaubt – Inzidenzwerte von weit unter 100 lassen es zu. Die Bewohner Schwabens aber müssen weiter warten. Hier infizieren sich immer noch überdurchschnittlich viele Menschen mit dem Coronavirus. Die schwäbische Sieben-Tage-Inzidenz, die das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit ermittelt, lag am Freitag bei 128,7 Infizierten pro 100000 Einwohner. Bayernweit hingegen sank sie nach Angaben des RobertKoch-Instituts (RKI) auf 95,3.
Zwar geht auch in Schwaben die Tendenz mittlerweile nach unten, dennoch ist der Regierungsbezirk auf den Landkarten des RKI noch tiefrot, also im Schnitt klar über einer Inzidenz von 100. Nur der Kreis Lindau präsentiert sich mit einer Quote von 59,8 in einem freundlicheren Orange. In den beliebten Urlaubsregionen im Allgäu ist nach aktuellem Stand erst einmal kein Tourismus möglich. Ab Pfingsten sollten Hotels zwar wieder öffnen dürfen, aber nur, wenn die 100 eine Woche lang unterschritten wurde. Die Landkreise Ostallgäu mit 110 und Oberallgäu mit 118 überschritten den Grenzwert am Freitag. Memmingen (Inzidenz 218) und das Unterallgäu (217) sind sogar Teil der traurigen Negativ-Top-Ten in ganz Deutschland.
Woran liegt das? Eine letztgültige Antwort auf diese Frage kann auch Dr. Hubert Mayer nicht geben. Er ist in Pandemiezeiten ärztlicher Koordinator für Schwaben und spricht von einem „ganz diffusen Geschehen“und wenig belastbaren Zahlen. „Aber die Patienten auf den Intensivstationen lassen darauf schließen, dass als wesentlicher Faktor der Bildungsstand und die Wohnsituation dafür verantwortlich sind, wie stark sich das Virus verbreitet. Wo mehr Leute eng beieinander wohnen, stecken sich mehr an. Entscheidend sind die Kontakte sowohl im privaten wie im beruflichen Bereich.“Beide Faktoren hatte auch die Stadt Augsburg als mögliche Ursachen genannt. In Stadtteilen mit großen Haushalten und einfachen Jobs ohne Homeoffice sind die Zahlen auffallend hoch. In Augsburg lag die Inzidenz am Freitag bei 127,5. Am Donnerstag hatte sie 140 betragen. Inwieweit – das gilt für alle Zahlen – verzögerte Meldungen aus dem Feiertag für den Rückgang verantwortlich sind, lässt sich nicht belegen. Weshalb das weniger besiedelte Unterallgäu so betroffen ist, ist ebenfalls schwer nachvollziehbar. Aus dem Landratsamt hieß es zuletzt, dass viele Infektionen auf Familien zurückgingen, in denen gleich mehrere Personen krank waren. Dazu kamen 41 Fälle in einer Mindelheimer Firma.
Mediziner Hubert Mayer, gleichzeitig Leiter der Aichacher Kliniken an der Paar, hat noch eine Vermutung: In der ersten Welle seien in Schwaben weniger Menschen als in anderen Regierungsbezirken erkrankt, erinnert er sich. „Entsprechend ist die Zahl der immunisierten Bewohner jetzt deutlich niedriger.“Statistisch belegen lasse sich das aber nicht.
Die Tourismusbetriebe im Allgäu hatten auf Urlauber an Pfingsten gehofft, doch die Hotels bleiben meist zugesperrt. Die Allgäuer Urlaubsbranche fordert nun, Urlaubsreisen im Inland unabhängig von der Inzidenz zuzulassen. „Deutsche Urlauber könnten in fast ganz Europa Urlaub machen, nur bei uns nicht“, sagte Anna-Maria Fäßler, Beiratsvorsitzende der Allgäu Top Hotels, kürzlich unserer Redaktion. Positive Signale für die Forderung der Hoteliers gibt es bisher nicht.
Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) setzt stattdessen auf Impfstoff – und schickt Sonderlieferungen in 22 besonders betroffene Regionen Bayerns: insgesamt 30000 Dosen – ein bislang nicht verplantes Kontingent des Fabrikats Johnson & Johnson. Die Auswahl richtet sich sowohl nach der Inzidenz als auch nach der Hausarzt-Dichte. Denn: Je weniger Ärzte, desto weniger Menschen können sich in den Praxen impfen lassen. Jeweils 1600 Extradosen gingen in die Impfzentren der Landkreise Dillingen, Günzburg, Unterallgäu und an die Stadt Memmingen, je rund 800 in die Kreise AichachFriedberg, Lindau und die Stadt Kempten. Schwabens Landräte hatten bereits Ende April solche Sonderlieferungen gefordert.
Corona-Experte Mayer begrüßt das. In den vergangenen drei Wochen sei die Situation in Schwaben dramatisch gewesen, die Intensivstationen zu 90 Prozent ausgelastet. Jetzt macht er Hoffnung: „Wir haben den Scheitel der dritten Welle überschritten.“Nun gehe es darum, auf die Regeln zu achten. „Wir stehen kurz vor dem Ende der Wegstrecke und sollten nicht auf den letzten 50 Metern den Mut verlieren, wenn wir schon mehrere Kilometer geschafft haben.“