Und wie geht es jetzt weiter?
Die Menschen sehnen sich nach ihrem normalen Leben. Aber wird nach Corona alles wie früher? Und wollen wir das eigentlich auch? Ein Blick in die Zukunft
Endlich! Nach über einem Jahr Corona ist so etwas wie Licht am Ende des Tunnels zu sehen – scheint das Leben, nachdem wir uns die vergangenen Monate so sehr sehnten, wieder allmählich greifbar zu werden: Familie und Freunde treffen, reisen, mit Kollegen in der Kaffeeküche stehen, ins Kino gehen, im Restaurant sitzen . . . Doch Moment. Wollen wir wirklich wieder alles zurückhaben? Gab und gibt es neben all dem Leid und der Angst nicht etwas Schönes in dem ganzen CoronaIrrsinn? Etwas, was bleiben soll? Weil es unser Leben entspannter, reicher, einfach besser macht? Und weil ja manches vielleicht doch zu viel war, wir uns nicht nur selbst überfordert haben, sondern mit unserer Lebensweise auch die Natur? Waren die vergangenen Monate also gar so etwas wie eine Nachdenkpause für unsere Gesellschaft?
Das sind die Fragen, mit denen sich Wissenschaftler gerade auseinandersetzen. Was bleibt und was geht – mit ihnen wagen wir den Blick in die Zukunft. Sicher sind sich alle: Die Krise wirkt wie ein Verstärker bestehender Trends – allen voran, was die Digitalisierung betrifft. Da gibt es nur Vorwärts, kein Zurück. Beginnen wir aber damit: Was wir im vergangenen Jahr, gefangen zwischen alter und neuer Normalität, anders gemacht haben.
Hände waschen, und zwar nicht nur husch husch, sondern 20 Sekunden. Am Anfang der Krise achtete jeder Zweite darauf, bis September sank der Prozentsatz jedoch von 49 auf 39, ergab eine europaweite Umfrage des Hamburg Center for Health Economics. Von einem nachhaltigen Ef fekt kann man also nicht sprechen: Auch vor der Pandemie wuschen sich laut einer Umfrage der Bundeszentrale für gesund heitliche Aufklärung etwa 38 Prozent der Deutschen gründlich die Hände. Was aber offenbar seltener gewaschen wurde als früher: der Körper. Laut den Marktfor schern von Nielsen brach der Duschgel und ShampooMarkt ein – um etwa vier Prozent. Haarspray um minus 20!
Hand ist out
Pandemien verändern Gewohnheiten. Sagt so auch der amerikanische Arzt und Soziologe Nicholas Christakis und nennt dafür ein fast schon kurios anmutendes Beispiel. Bis zur spanischen Grippe waren
Spucknäpfe in Amerika noch selbstverständlich in Kneipen und Bars. Dann verschwanden sie klanglos. Und heute? Sage keiner mehr: Verrückt, wo sind die Spucknäpfe? Ergeht es so nun dem Handschlag? „Zwischenmenschliche Verhaltensweisen verändern sich ja immer wieder kolossal“, sagt auch der Soziologe und Publizist Harald Welzer. „So ist auch Händeschütteln aus der Mode gekommen.“Und das werde vermutlich auch so bleiben. Doch komplett auf Distanz bleiben werden wir nicht – da ist sich der Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei sicher: „Ich glaube nicht, dass alle freundlichen körperlichen Kontakte unter Bekannten wie etwa Umarmungen aussterben werden. Das wird zurückkehren.“
So sieht es auch Cornelius Borck, Direktor des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung an der Uni Lübeck. BussiBussi oder Handschlag – da sei er skeptisch für die Zukunft. In Deutschland habe man aber schon vor Corona beobachtet, dass es immer mehr informelle Arten der Begrüßung gebe, zum Beispiel ein freundliches Kopfnicken. „Solche Gesten sind fein austariert, da ist nun so etwas wie soziale Kreativität gefragt“, sagt Borck. Der Ellbogenoder Faustgruß aber werde sich wohl auch nicht halten: „Beides ist in unserer Kultur dann doch ziemlich aggressiv konnotiert.“
Was nach Ansicht von Welzer bleiben wird, zumindest zum Teil: das Maskentragen. So wie es in Asien schon vor der Pandemie der Fall war. Welzer kann sich sehr gut vorstellen, dass Menschen auch künftig beispielsweise im Bus, in der Bahn, im Flugzeug, eben überall dort, wo es eng wird, wo Gedränge herrscht, Masken auch weiterhin tragen werden. „Und für Menschen, die nicht in der Bussi-Bussi-Abteilung unterwegs sind, ist so eine Maske ja auch eine super Entschuldigung“, sagt Welzer. 64 Prozent der Deutschen haben mittler weile ihr Schlafverhalten verändert. Homeschooling, weniger Fahrten zur Ar beit sowie Medienkonsum bis spät in die Nacht bringen nicht nur den Tages rhythmus, sondern auch die Nachtruhe durcheinander. (Studie mhplus Kranken kasse)
Wir lieben die Routine
Wie aber wird sich die nun so lange eingeübte Distanz auf unseren Alltag auswirken? Wie werden wir miteinander umgehen? „Insgesamt sind wir Menschen doch eher träge Lebewesen, die dann wieder zurückkehren zu den Routinen, die vorher da waren“, glaubt Cornelius Borck. Andererseits: Über ein Jahr lang haben wir anders gelebt, neue Arten des Miteinanders geübt, neue Kommunikationstechniken gelernt: Auch Oma kann jetzt zoomen! Was ein Segen während der letzten Monate war, Familie und Freunde zusammengebracht hat, könnte aber in Zukunft auch seine Schattenseiten entfalten, Einsamkeit verstärken: Warum beispielsweise nach Hamburg zur Familie fahren, wenn man sich doch so einfach online treffen kann? Die Frage, die sich Borck stellt: „Wie viel geteilte Wirklichkeit kommt zurück?“Er hoffe, da die Pandemie schon so lange andauert, dass sie uns auch habe erkennen lassen, was in den neuen Kommunikationsformen alles nicht geht und was sich die Gesellschaft deswegen wieder neu aneignen muss – „das gefühlte und gelebte alltägliche Miteinander“.
Wie alltäglich, wie selbstverständlich also wird wieder Begegnung – mit Freunden, mit Fremden? Dicht an dicht an einer Bar zu sitzen, sich die Nüsschenschale teilen? „Gesellige Rituale rund ums gemeinschaftliche Essen ändern sich in einer Gesellschaft immer“, erklärt Harald Welzer. Im Rückblick weiß man oft gar nicht warum. „Doch so eine Krise, die tatsächlich mit Infektionen, mit Berührung zu tun hat, und damit auch assoziiert ist, wird zu starken Veränderungen führen.“Manche würde Welzer auch begrüßen! „Vielleicht ist es eine zivilisatorische Errungenschaft, wenn jetzt mit Corona das Büfett tot ist und wir endlich im Hotel wieder ein ordentliches Frühstück serviert bekommen.“Für den Soziologen war es schon immer dekadent, dass es billiger ist, Lebensmittel im großen Stil wegzuwerfen, als Personal einzustellen. „Und ist so ein Büfett nicht eigentlich eine unästhetische, unangenehme, kontaminierende Art der Essensaufnahme? Ich wäre jedenfalls ein großer Freund davon, wenn diese Büfetts endlich verschwinden.“
Unvorstellbar ist noch, dass man mit ein paar tausend Menschen eng sitzt. Im Konzert etwa. Oder – wichtig für Bayern – am Oktoberfest. Wird das wieder? Tja, sagt Borck. Schwierige Frage, speziell im letzten Fall, Masse und Alkohol. Zum sozialen Leben gehörten solche gesellschaftlichen Formate aber natürlich dazu. Borck setzt auf den Fußball und die unbremsbaren Fans. „Und wenn man dann sieht, dass 50 000 Zuschauer im Stadion keine Gefahr sind, dann wird auch dies wiederkommen.“
Es fließt mehr Alkohol in der Pandemie: 37 Prozent geben an, während des Lockdowns mehr Bier und Schnaps als vorher getrunken zu haben. (Studie des Zentralinstitutes für Seelische Gesundheit in Mannheim und Klinikum Nürnberg). 40 Prozent berichten auch von einem ge steigerten ZigarettenKonsum. (Studie des Zentralinstitutes für Seelische Ge sundheit in Mannheim und Klinikum Nürnberg). Auch Kaffee wurde mehr ge trunken: 20 Tassen mehr als 2019, nun 168 Liter! (Dt. Kaffeeverband)
Endlich Zeit zum Ausmisten
Leer gefegte Terminkalender, die Geschäfte zu, die Abende zu Hause. Und plötzlich so viel Zeit. Der erste Lockdown im vergangenen Jahr brachte überraschend zutage: dass gar nicht wenige Menschen von denen, die nicht um ihre Existenz oder Gesundheit bangten, sich sogar besser fühlten, weniger gestresst, weil man ja auch nichts verpassen konnte. Wofür also für viele Zeit war: indisch kochen, Yoga-Tutorials anschauen, den Keller ausmisten. Oder wie es die Schriftstellerin Valerie Fritsch in ihrem Corona-Tagebuch für das Literaturhaus Graz am 29. März notierte: „Man könnte meinen, manchen Leuten wäre es gar nicht möglich, ohne eine nie da gewesene Krise die Wohnung aufzuräumen, das Badezimmer zu putzen, Kaiserschmarrn zu kochen.“Und nun? Da auch der letzte Kellerschrank neu sortiert ist? Ist die Blase, in der die viele Zeit samt Menschen schwebte, längst geplatzt. Sagt auch Cornelius Borck. Und die Yoga-Matte wird eher ausgerollt, um unter unzureichenden Bedingungen das Leben nicht ganz aus der Hand zu geben. Das vorherrschende Gefühl:
eher wohl Rastlosigkeit. Je nach Arbeitsumfeld sieht Mediziner Cornelius Borck sogar eine Verdichtung von Terminen: Weil man ja auch nie den Ort wechseln muss, sondern einfach am Schreibtisch von Videokonferenz zu Videokonferenz hoppt.
Homeoffice – auf dem Land!
Glücklich, wer während des Lockdowns einen schönen Baum und nicht nur Häuserzeilen vor dem Fenster hatte. Vielleicht auch einen Balkon oder gar einen Garten, in dem man die Kinder zum Spielen schicken konnte und womöglich auch noch sein eigenes Gemüsebeet beackerte. Ändert sich durch die Erfahrung der vergangenen Monate die Art, wie wir wohnen wollen? Lieber mit Balkon, lieber draußen, gleich ganz im Grünen? „Dass viele Menschen in kleinen Wohnungen ohne Balkon leben, ist vor allem eine finanzielle Frage. Die wohnen dort ja nicht freiwillig“, betont Welzer. Dennoch wird das Landleben einen ganz massiven Zustrom erleben, sagt er. Doch der Schub fürs Landleben kommt für ihn von einer anderen Seite: „Wir werden auch künftig viel stärker in Heimarbeit – neuhochdeutsch Homeoffice – arbeiten. Homeoffice wird bleiben und sich verstärken. Schon allein aus dem Grund, weil es eine Rationalisierungschance für die Unternehmer ist. Und die werden einen Teufel tun und sich so eine Chance entgehen lassen. Man spart unglaublich viele Kosten. Und die Arbeitnehmer kann man so viel besser kontrollieren. Homeoffice, das ist sicher, wird nie mehr weggehen.“
Daher werden viele Menschen nach Einschätzung von Welzer verstärkt aufs Land ziehen. „Denn im Homeoffice ist es natürlich wichtiger, dass man den Laptop auch einmal auf einer Terrasse oder generell in einer schönen Umgebung aufstellen kann.“Daher ist sich Welzer sicher: „Die ländlichen Räume werden eine ganz starke Aufwertung erfahren.“Weil aber der Mensch ein soziales Wesen ist und es den meisten keinen Spaß macht, den ganzen Tag allein vor dem Laptop zu sitzen, werden nach Einschätzung von Welzer auf dem Dorf „Orte des CoWorkings“entstehen, Häuser beispielsweise, in denen gemeinsam gearbeitet werden kann. „Es entwickeln sich also auf dem Land neue Formen des gemeinsamen Arbeitens. Und wo gearbeitet wird, entstehen auch Cafés mit Mittagstisch, weil die Leute auch etwas essen wollen. Wir bekommen richtig Bewegung in der Landschaft. Das ist eine unglaublich interessante Entwicklung“, sagt Welzer.
Und was wird dann aus unseren Städten? Schon vor Corona litten die Innenstädte. Schon vorher kämpften die Geschäfte mit dem blühenden Onlinehandel. Stehen die Städte dann also bald leer? „Es wird andere Nutzungsformen geben“, sagt Welzer. „Was kommen wird, ist ein Leerstand von Büroimmobilien im ganz großen Stil, weil eben der Trend zum Homeoffice nicht mehr zurückgehen wird. Die Städte sind für junge Menschen aber attraktiv. Daher kann ich mir vorstellen, dass auch in den Städten experimentelle, kreative Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens entstehen, in denen beispielsweise auch die Kinderbetreuung gemeinschaftlich organisiert wird.“
Seit der Pandemie besteht offenbar das Interesse, ein neues Instrument zu ler nen. Zum Beispiel stieg die Nachfrage nach EGitarren von Januar bis Novem ber 2020 um knapp 30 Prozent, bei den akustischen Gitarren um 20 Prozent. (Branchenverband Somm). Auch Sprach lernApps erlebten einen Boom.
Bitte liefern
Lieferdienste gehören zu den Corona-Gewinnern und Harald Welzer sagt: „Es ist zu befürchten, dass Lieferdienste bleiben.“Schließlich haben viele Leute Lieferdienste schon vor der Pandemie für sich entdeckt. Viele andere probierten sie jetzt zum ersten Mal aus und haben gesehen: Wow, das klappt ja toll. Sie werden also nach Einschätzung von Welzer bleiben.
Und nicht nur Mittag- und Abendessen wird fleißig digital geordert: „Viele Menschen fragen sich generell: Warum schleppe ich noch Kisten oder Tüten, wenn mir das alles doch gebracht wird? Dieser Bequemlichkeitsaspekt wird es sein, der dazu führt, dass viele sich auch, wenn die Läden längst wieder geöffnet haben, weiter alles online bestellen und liefern lassen.“Welzer