Guenzburger Zeitung

Und wie geht es jetzt weiter?

Die Menschen sehnen sich nach ihrem normalen Leben. Aber wird nach Corona alles wie früher? Und wollen wir das eigentlich auch? Ein Blick in die Zukunft

- Von Daniela Hungbaur, Franziska Müller und Stefanie Wirsching

Endlich! Nach über einem Jahr Corona ist so etwas wie Licht am Ende des Tunnels zu sehen – scheint das Leben, nachdem wir uns die vergangene­n Monate so sehr sehnten, wieder allmählich greifbar zu werden: Familie und Freunde treffen, reisen, mit Kollegen in der Kaffeeküch­e stehen, ins Kino gehen, im Restaurant sitzen . . . Doch Moment. Wollen wir wirklich wieder alles zurückhabe­n? Gab und gibt es neben all dem Leid und der Angst nicht etwas Schönes in dem ganzen CoronaIrrs­inn? Etwas, was bleiben soll? Weil es unser Leben entspannte­r, reicher, einfach besser macht? Und weil ja manches vielleicht doch zu viel war, wir uns nicht nur selbst überforder­t haben, sondern mit unserer Lebensweis­e auch die Natur? Waren die vergangene­n Monate also gar so etwas wie eine Nachdenkpa­use für unsere Gesellscha­ft?

Das sind die Fragen, mit denen sich Wissenscha­ftler gerade auseinande­rsetzen. Was bleibt und was geht – mit ihnen wagen wir den Blick in die Zukunft. Sicher sind sich alle: Die Krise wirkt wie ein Verstärker bestehende­r Trends – allen voran, was die Digitalisi­erung betrifft. Da gibt es nur Vorwärts, kein Zurück. Beginnen wir aber damit: Was wir im vergangene­n Jahr, gefangen zwischen alter und neuer Normalität, anders gemacht haben.

Hände waschen, und zwar nicht nur husch husch, sondern 20 Sekunden. Am Anfang der Krise achtete jeder Zweite darauf, bis September sank der Prozentsat­z jedoch von 49 auf 39, ergab eine europaweit­e Umfrage des Hamburg Center for Health Economics. Von einem nachhaltig­en Ef‰ fekt kann man also nicht sprechen: Auch vor der Pandemie wuschen sich laut einer Umfrage der Bundeszent­rale für gesund‰ heitliche Aufklärung etwa 38 Prozent der Deutschen gründlich die Hände. Was aber offenbar seltener gewaschen wurde als früher: der Körper. Laut den Marktfor‰ schern von Nielsen brach der Duschgel‰ und Shampoo‰Markt ein – um etwa vier Prozent. Haarspray um minus 20!

Hand ist out

Pandemien verändern Gewohnheit­en. Sagt so auch der amerikanis­che Arzt und Soziologe Nicholas Christakis und nennt dafür ein fast schon kurios anmutendes Beispiel. Bis zur spanischen Grippe waren

Spucknäpfe in Amerika noch selbstvers­tändlich in Kneipen und Bars. Dann verschwand­en sie klanglos. Und heute? Sage keiner mehr: Verrückt, wo sind die Spucknäpfe? Ergeht es so nun dem Handschlag? „Zwischenme­nschliche Verhaltens­weisen verändern sich ja immer wieder kolossal“, sagt auch der Soziologe und Publizist Harald Welzer. „So ist auch Händeschüt­teln aus der Mode gekommen.“Und das werde vermutlich auch so bleiben. Doch komplett auf Distanz bleiben werden wir nicht – da ist sich der Mitbegründ­er und Direktor der gemeinnütz­igen Stiftung Futurzwei sicher: „Ich glaube nicht, dass alle freundlich­en körperlich­en Kontakte unter Bekannten wie etwa Umarmungen aussterben werden. Das wird zurückkehr­en.“

So sieht es auch Cornelius Borck, Direktor des Instituts für Medizinges­chichte und Wissenscha­ftsforschu­ng an der Uni Lübeck. BussiBussi oder Handschlag – da sei er skeptisch für die Zukunft. In Deutschlan­d habe man aber schon vor Corona beobachtet, dass es immer mehr informelle Arten der Begrüßung gebe, zum Beispiel ein freundlich­es Kopfnicken. „Solche Gesten sind fein austariert, da ist nun so etwas wie soziale Kreativitä­t gefragt“, sagt Borck. Der Ellbogenod­er Faustgruß aber werde sich wohl auch nicht halten: „Beides ist in unserer Kultur dann doch ziemlich aggressiv konnotiert.“

Was nach Ansicht von Welzer bleiben wird, zumindest zum Teil: das Maskentrag­en. So wie es in Asien schon vor der Pandemie der Fall war. Welzer kann sich sehr gut vorstellen, dass Menschen auch künftig beispielsw­eise im Bus, in der Bahn, im Flugzeug, eben überall dort, wo es eng wird, wo Gedränge herrscht, Masken auch weiterhin tragen werden. „Und für Menschen, die nicht in der Bussi-Bussi-Abteilung unterwegs sind, ist so eine Maske ja auch eine super Entschuldi­gung“, sagt Welzer. 64 Prozent der Deutschen haben mittler‰ weile ihr Schlafverh­alten verändert. Homeschool­ing, weniger Fahrten zur Ar‰ beit sowie Medienkons­um bis spät in die Nacht bringen nicht nur den Tages‰ rhythmus, sondern auch die Nachtruhe durcheinan­der. (Studie mhplus Kranken‰ kasse)

Wir lieben die Routine

Wie aber wird sich die nun so lange eingeübte Distanz auf unseren Alltag auswirken? Wie werden wir miteinande­r umgehen? „Insgesamt sind wir Menschen doch eher träge Lebewesen, die dann wieder zurückkehr­en zu den Routinen, die vorher da waren“, glaubt Cornelius Borck. Anderersei­ts: Über ein Jahr lang haben wir anders gelebt, neue Arten des Miteinande­rs geübt, neue Kommunikat­ionstechni­ken gelernt: Auch Oma kann jetzt zoomen! Was ein Segen während der letzten Monate war, Familie und Freunde zusammenge­bracht hat, könnte aber in Zukunft auch seine Schattense­iten entfalten, Einsamkeit verstärken: Warum beispielsw­eise nach Hamburg zur Familie fahren, wenn man sich doch so einfach online treffen kann? Die Frage, die sich Borck stellt: „Wie viel geteilte Wirklichke­it kommt zurück?“Er hoffe, da die Pandemie schon so lange andauert, dass sie uns auch habe erkennen lassen, was in den neuen Kommunikat­ionsformen alles nicht geht und was sich die Gesellscha­ft deswegen wieder neu aneignen muss – „das gefühlte und gelebte alltäglich­e Miteinande­r“.

Wie alltäglich, wie selbstvers­tändlich also wird wieder Begegnung – mit Freunden, mit Fremden? Dicht an dicht an einer Bar zu sitzen, sich die Nüsschensc­hale teilen? „Gesellige Rituale rund ums gemeinscha­ftliche Essen ändern sich in einer Gesellscha­ft immer“, erklärt Harald Welzer. Im Rückblick weiß man oft gar nicht warum. „Doch so eine Krise, die tatsächlic­h mit Infektione­n, mit Berührung zu tun hat, und damit auch assoziiert ist, wird zu starken Veränderun­gen führen.“Manche würde Welzer auch begrüßen! „Vielleicht ist es eine zivilisato­rische Errungensc­haft, wenn jetzt mit Corona das Büfett tot ist und wir endlich im Hotel wieder ein ordentlich­es Frühstück serviert bekommen.“Für den Soziologen war es schon immer dekadent, dass es billiger ist, Lebensmitt­el im großen Stil wegzuwerfe­n, als Personal einzustell­en. „Und ist so ein Büfett nicht eigentlich eine unästhetis­che, unangenehm­e, kontaminie­rende Art der Essensaufn­ahme? Ich wäre jedenfalls ein großer Freund davon, wenn diese Büfetts endlich verschwind­en.“

Unvorstell­bar ist noch, dass man mit ein paar tausend Menschen eng sitzt. Im Konzert etwa. Oder – wichtig für Bayern – am Oktoberfes­t. Wird das wieder? Tja, sagt Borck. Schwierige Frage, speziell im letzten Fall, Masse und Alkohol. Zum sozialen Leben gehörten solche gesellscha­ftlichen Formate aber natürlich dazu. Borck setzt auf den Fußball und die unbremsbar­en Fans. „Und wenn man dann sieht, dass 50 000 Zuschauer im Stadion keine Gefahr sind, dann wird auch dies wiederkomm­en.“

Es fließt mehr Alkohol in der Pandemie: 37 Prozent geben an, während des Lockdowns mehr Bier und Schnaps als vorher getrunken zu haben. (Studie des Zentralins­titutes für Seelische Gesundheit in Mannheim und Klinikum Nürnberg). 40 Prozent berichten auch von einem ge‰ steigerten Zigaretten‰Konsum. (Studie des Zentralins­titutes für Seelische Ge‰ sundheit in Mannheim und Klinikum Nürnberg). Auch Kaffee wurde mehr ge‰ trunken: 20 Tassen mehr als 2019, nun 168 Liter! (Dt. Kaffeeverb­and)

Endlich Zeit zum Ausmisten

Leer gefegte Terminkale­nder, die Geschäfte zu, die Abende zu Hause. Und plötzlich so viel Zeit. Der erste Lockdown im vergangene­n Jahr brachte überrasche­nd zutage: dass gar nicht wenige Menschen von denen, die nicht um ihre Existenz oder Gesundheit bangten, sich sogar besser fühlten, weniger gestresst, weil man ja auch nichts verpassen konnte. Wofür also für viele Zeit war: indisch kochen, Yoga-Tutorials anschauen, den Keller ausmisten. Oder wie es die Schriftste­llerin Valerie Fritsch in ihrem Corona-Tagebuch für das Literaturh­aus Graz am 29. März notierte: „Man könnte meinen, manchen Leuten wäre es gar nicht möglich, ohne eine nie da gewesene Krise die Wohnung aufzuräume­n, das Badezimmer zu putzen, Kaiserschm­arrn zu kochen.“Und nun? Da auch der letzte Kellerschr­ank neu sortiert ist? Ist die Blase, in der die viele Zeit samt Menschen schwebte, längst geplatzt. Sagt auch Cornelius Borck. Und die Yoga-Matte wird eher ausgerollt, um unter unzureiche­nden Bedingunge­n das Leben nicht ganz aus der Hand zu geben. Das vorherrsch­ende Gefühl:

eher wohl Rastlosigk­eit. Je nach Arbeitsumf­eld sieht Mediziner Cornelius Borck sogar eine Verdichtun­g von Terminen: Weil man ja auch nie den Ort wechseln muss, sondern einfach am Schreibtis­ch von Videokonfe­renz zu Videokonfe­renz hoppt.

Homeoffice – auf dem Land!

Glücklich, wer während des Lockdowns einen schönen Baum und nicht nur Häuserzeil­en vor dem Fenster hatte. Vielleicht auch einen Balkon oder gar einen Garten, in dem man die Kinder zum Spielen schicken konnte und womöglich auch noch sein eigenes Gemüsebeet beackerte. Ändert sich durch die Erfahrung der vergangene­n Monate die Art, wie wir wohnen wollen? Lieber mit Balkon, lieber draußen, gleich ganz im Grünen? „Dass viele Menschen in kleinen Wohnungen ohne Balkon leben, ist vor allem eine finanziell­e Frage. Die wohnen dort ja nicht freiwillig“, betont Welzer. Dennoch wird das Landleben einen ganz massiven Zustrom erleben, sagt er. Doch der Schub fürs Landleben kommt für ihn von einer anderen Seite: „Wir werden auch künftig viel stärker in Heimarbeit – neuhochdeu­tsch Homeoffice – arbeiten. Homeoffice wird bleiben und sich verstärken. Schon allein aus dem Grund, weil es eine Rationalis­ierungscha­nce für die Unternehme­r ist. Und die werden einen Teufel tun und sich so eine Chance entgehen lassen. Man spart unglaublic­h viele Kosten. Und die Arbeitnehm­er kann man so viel besser kontrollie­ren. Homeoffice, das ist sicher, wird nie mehr weggehen.“

Daher werden viele Menschen nach Einschätzu­ng von Welzer verstärkt aufs Land ziehen. „Denn im Homeoffice ist es natürlich wichtiger, dass man den Laptop auch einmal auf einer Terrasse oder generell in einer schönen Umgebung aufstellen kann.“Daher ist sich Welzer sicher: „Die ländlichen Räume werden eine ganz starke Aufwertung erfahren.“Weil aber der Mensch ein soziales Wesen ist und es den meisten keinen Spaß macht, den ganzen Tag allein vor dem Laptop zu sitzen, werden nach Einschätzu­ng von Welzer auf dem Dorf „Orte des CoWorkings“entstehen, Häuser beispielsw­eise, in denen gemeinsam gearbeitet werden kann. „Es entwickeln sich also auf dem Land neue Formen des gemeinsame­n Arbeitens. Und wo gearbeitet wird, entstehen auch Cafés mit Mittagstis­ch, weil die Leute auch etwas essen wollen. Wir bekommen richtig Bewegung in der Landschaft. Das ist eine unglaublic­h interessan­te Entwicklun­g“, sagt Welzer.

Und was wird dann aus unseren Städten? Schon vor Corona litten die Innenstädt­e. Schon vorher kämpften die Geschäfte mit dem blühenden Onlinehand­el. Stehen die Städte dann also bald leer? „Es wird andere Nutzungsfo­rmen geben“, sagt Welzer. „Was kommen wird, ist ein Leerstand von Büroimmobi­lien im ganz großen Stil, weil eben der Trend zum Homeoffice nicht mehr zurückgehe­n wird. Die Städte sind für junge Menschen aber attraktiv. Daher kann ich mir vorstellen, dass auch in den Städten experiment­elle, kreative Formen des Zusammenle­bens und Zusammenar­beitens entstehen, in denen beispielsw­eise auch die Kinderbetr­euung gemeinscha­ftlich organisier­t wird.“

Seit der Pandemie besteht offenbar das Interesse, ein neues Instrument zu ler‰ nen. Zum Beispiel stieg die Nachfrage nach E‰Gitarren von Januar bis Novem‰ ber 2020 um knapp 30 Prozent, bei den akustische­n Gitarren um 20 Prozent. (Branchenve­rband Somm). Auch Sprach‰ lern‰Apps erlebten einen Boom.

Bitte liefern

Lieferdien­ste gehören zu den Corona-Gewinnern und Harald Welzer sagt: „Es ist zu befürchten, dass Lieferdien­ste bleiben.“Schließlic­h haben viele Leute Lieferdien­ste schon vor der Pandemie für sich entdeckt. Viele andere probierten sie jetzt zum ersten Mal aus und haben gesehen: Wow, das klappt ja toll. Sie werden also nach Einschätzu­ng von Welzer bleiben.

Und nicht nur Mittag- und Abendessen wird fleißig digital geordert: „Viele Menschen fragen sich generell: Warum schleppe ich noch Kisten oder Tüten, wenn mir das alles doch gebracht wird? Dieser Bequemlich­keitsaspek­t wird es sein, der dazu führt, dass viele sich auch, wenn die Läden längst wieder geöffnet haben, weiter alles online bestellen und liefern lassen.“Welzer

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