Ist die vierte Welle noch zu stoppen?
Eine Forschungsgruppe der TU Berlin sagt einen schnellen Anstieg der Corona-Zahlen mit dem Herbst vorher. Warum Schulen in dem Szenario eine besondere Rolle spielen
Augsburg/Berlin Zum ersten Mal seit einem Monat ist der Inzidenzwert in Deutschland wieder zweistellig. Das Robert-Koch-Institut (RKI) gab den Wert am Sonntagmorgen mit 10 an – vor einer Woche lag er noch bei 6,2. Die Zahl der Corona-Neuinfektionen bewegt sich damit nur langsam nach oben, allerdings ist für viele Experten der Trend klar: Der Prozess verläuft exponentiell, das heißt, er wird sich zunehmend beschleunigen. Wissenschaftler der Technischen Universität Berlin (TU) erwarten auf Basis von Modellierungen inzwischen sogar eine vierte Welle im Herbst, die auch an Krankenhäusern nicht vorbeigehen wird – auch, weil der Impffortschritt ins Stocken gerät. Erst zwei Bundesländer – Bremen und das Saarland – haben es geschafft, mindestens 50 Prozent ihrer Einwohner zu impfen.
„Aufgrund des exponentiellen Prozesses ist der aktuelle Anstieg der Inzidenzen beunruhigend“, schreibt die Forschergruppe rund um Kai Nagel. „Laut unserem Modell wird dieser Anstieg beschleunigt werden, wenn die Schulen nach den Sommerferien ohne Schutzmaßnahmen öffnen und im Herbst Aktivitäten aufgrund niedriger Temperaturen nach drinnen verlagert werden. Letzteres wird auch zu einem Anstieg der Krankenhauseingangszahlen führen.“Die oft gehörte Einschätzung, dass es sich in Deutschland noch um einen „leichten Anstieg“handle, teilt Kai Nagel nicht. Vor allem die Schulen nehmen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Blick, denn die sind für den weiteren Pandemieverlauf von großer Bedeutung. Eine Infektionswelle bei Kindern und Jugendlichen führe unweigerlich auch zu einer Welle bei den Erwachsenen und umgekehrt. Nagel und seine Kolleginnen und Kollegen schlagen deshalb vor, Lüftungssysteme mit dem flächendeckenden Einsatz von Corona-Tests zu verbinden. „Bei konsequenter Umsetzung dieser Schutzmaßnahmen sind Schuloder Wechselunterricht nicht notwendig. Allerdings sind die derzeit typischen zwei Schnelltests pro Woche ohne zusätzliche Maßnahmen bei weitem nicht ausreichend“, schreiben die Forscherinnen und Forscher in ihrer Analyse.
Den Beginn der vierten Welle prognostizieren die Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für den September – abhängig sei dies von den Temperaturen. Sobald es kühler wird, werden wieder viele Aktivitäten in Innenräume verlagert. Dann sind zudem die Sommerferien in allen Bundesländern vorüber. Nur wenn die Bevölkerung dann wieder vorsichtiger sei und auch die Politik Regeln erlasse, könne eine Überlastung der Krankenhäuser vermieden werden. Doch selbst dann sei mit massiv steigenden Infektionszahlen zu rechnen. „Nur wenn die Impfstoffe gegen Delta deutlich besser wirken als derzeit bekannt oder wenn eine Impfquote von 95 Prozent erreicht wird, dann bleibt diese Welle in unseren Simulationen aus“, so die Gruppe um Kai Nagel. Und weiter: „Laut unseren Simulationen wird im Oktober ein exponentieller Anstieg bei den Krankenhauszahlen starten. Falls die derzeitige Entwicklung anhält, wird dies sogar früher beginnen und sich im Oktober dann noch mal verstärken.“Dann müsse sich die Politik entscheiden, welcher Wert künftig als Maßstab für Maßnahmen gelten soll – die Inzidenz oder Krankenhausbelastung. Der Blick allein auf die Belegung der Intensivbetten sei zu spät, um noch reagieren zu können.
Der Deutsche Hausärzteverband fordert, neben den Fallzahlen die Lage in den Arztpraxen zu berückschließungen sichtigen. „Für unser tägliches Arbeiten sind die reinen Inzidenzzahlen nicht so entscheidend wie die Zahl der Patientinnen und Patienten, die mit mittleren und schweren Symptomen unsere Praxen aufsuchen“, sagte Verbandschef Ulrich Weigeldt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Allerdings sei die nachlassende Impfbereitschaft deutlich zu spüren.
Das statistische Rechenmodell der TU Berlin lenkt auch den Blick auf die Impfquote bei Kindern. In Deutschland hat die Ständige Impfkommission bislang keine Empfehlung für Kinder ab 12 Jahren ausgesprochen, für Jüngere liegt noch gar kein Impfstoff vor. Ausgerechnet eine der Entwicklerinnen des AstraZeneca-Impfstoffes rät nun auch zu Zurückhaltung. Die Politik sollte eine Kosten-Nutzen-Analyse machen, sagte Sarah Gilbert in einem Interview mit Welt und anderen europäischen Medien. Die Delta-Variante sei zum Beispiel sehr ansteckend, sodass Leute trotz zwei Impfungen mit einem milden Verlauf krank würden. Schwere Fälle und Todesfälle seien aber selten. „Wenn also die Übertragung nicht zu verhindern ist und Kinder weder schwer erkranken noch sterben, dann stellt sich die Frage: Lohnt sich das Impfen?“Zugleich machte Gilbert deutlich, dass eine Impfung für manche Kinder sinnvoll sein könnte. „Für eine sehr kleine Zahl von Kindern ist das Virus gefährlich. Länder sollten erwägen, diese zu impfen“, sagte Gilbert.
Auffrischungsimpfungen werden der Immunologin Gilbert zufolge für die allgemeine Bevölkerung nicht nötig sein. „Die Wirksamkeit lässt vor allem bei älteren Menschen schneller nach. Weil das Immunsystem altert, ist auch die Reaktion mit Antikörpern nicht mehr so gut. Falls wir also Booster brauchen, dann für die ältere Population. Ich erwarte nicht, dass dies für die breite Bevölkerung notwendig wird.“Gilbert, die seit 1994 an der Universität Oxford forscht, leitete das Entwicklungsteam hinter dem AstraZenecaImpfstoff. (mit dpa)