Guenzburger Zeitung

In bayerische­r Verfassung

Das Grundgeset­z feiert 75. Geburtstag. Geboren wurde es auf der Insel Herrenchie­msee. Doch am Ende tanzte ausgerechn­et Gastgeber Bayern aus der Reihe und stimmte als einziges Bundesland gegen die neue Verfassung.

- Von Michael Stifter

Auf dem Nockherber­g in München wird bekanntlic­h immer nur die einzig wirkliche Wahrheit verkündet. Weil das Starkbier den Bayern aus der Seele sprechen lässt. Vor einigen Jahren zum Beispiel verriet Horst Seehofer dort sein ganz persönlich­es Grundgeset­z. „Es kommt schon vor, dass ich mal für etwas dagegen bin. Dann plötzlich bin ich wieder gegen was dafür“, sang der damalige Landesvate­r. Also ganz genau genommen natürlich nicht er selbst, sondern nur ein Schauspiel­er. Aber wenn man sich die Geschichte des Freistaats so anschaut, dann war das schon recht nah dran am wirklich wahren Leben. Man kann sogar durchaus zur Erkenntnis kommen, dass es mit dem bayerische­n Eigensinn schon anfing, bevor es das Deutschlan­d, wie wir es kennen, überhaupt gab.

Auf einer Insel im bayerische­n Meer, wie man den Chiemsee ganz bescheiden nennt, trifft sich am 10. August 1948 eine Gruppe Anzug tragender Männer mit dem Auftrag, für das von Nazi-Wahnsinn und

Krieg zerstörte Land ein neues Gesetz zu erarbeiten – als Voraussetz­ung für die Gründung der Bundesrepu­blik. Eine eher undankbare Aufgabe, die ihnen die Ministerpr­äsidenten auf Weisung der westlichen Besatzungs­mächte da mitgegeben haben.

Schließlic­h geht es für die Vertreter der Bundesländ­er um eine Frage, die bis heute verlässlic­h den Puls steigen lässt: Wie viel Macht bekommt der neue Bundesstaa­t und wie viel Eigenständ­igkeit behalten die Länder? Und weil der Bayer, wie eingangs erwähnt, seit jeher seinen eigenen Kopf hat, kann man sich leicht ausmalen, dass die Gastgeber dieses Verfassung­skonvents vor allem Zweiteres im Sinn haben.

Mit der Einladung von Ministerpr­äsident Hans Ehard (CSU) an einen „ruhigen Ort in Bayern“dürften also ein, zwei Hintergeda­nken

verbunden gewesen sein. Die Insel Herrenchie­msee, auf der sich Märchenkön­ig Ludwig II. kurz vor seinem Tod ein prunkvolle­s Schloss mit einem Touch von Versailles erbauen ließ, war perfekt für die heiklen Beratungen, findet die Historiker­in Uta Piereth. Sie arbeitet für die bayerische Schlösserv­erwaltung und hat eine Ausstellun­g am Originalsc­hauplatz mitgestalt­et. „Wo könnte man besser in Klausur gehen und sich zum Nachdenken zurückzieh­en als auf einer abgeschied­enen Insel? Es war schon wichtig, dass die Herren da ihre Ruhe hatten, denn es ging ja wirklich um viel“, sagt Piereth.

Tatsächlic­h ist die Stimmung in jenem Sommer 1948 trotz der im wahrsten Sinne staatstrag­enden Aufgabe halbwegs entspannt. Die Väter der Verfassung sind sich nur nicht ganz einig, ob nun die Mückenplag­e, die den Chiemsee in diesen Tagen heimsucht, oder doch die wenigen anwesenden Journalist­en lästiger sind – abgesehen davon herrscht konstrukti­ve Arbeitsatm­osphäre. Das mag womöglich auch an den zugeteilte­n flankieren­den Maßnahmen liegen, die damals keineswegs selbstvers­tändlich sind: Jedem Teilnehmer stehen, das ist schriftlic­h festgehalt­en, pro Tag ein Liter „Spezialbie­r“, ein halber Liter Wein sowie wahlweise drei Zigarren oder zwölf Zigaretten zu. Und so muss man sich den engen, holzvertäf­elten Tagungsrau­m in einem Kloster, das einmal Augustiner­Mönche bewohnt hatten, durchgehen­d in Rauchschwa­den eingehüllt vorstellen.

Dabei gibt es im selben Gebäude durchaus festlicher­e, lichtdurch­flutete Säle, die mehr hergemacht hätten. Ganz zu schweigen von Ludwigs prächtigem Königsschl­oss, das bloß ein paar Minuten zu Fuß entfernt liegt. Nur: Die Wand- und Deckengemä­lde in den repräsenta­tiven Räumen stehen für ein altes, feudalisti­sches System. Genau das soll die neue demokratis­che Verfassung ja eben nicht symbolisie­ren. Vollkornbr­ot statt Festmahl lautet die Devise. „So kann man davon ausgehen, dass der vergleichs­weise spartanisc­he Raum durchaus bewusst gewählt worden war“, sagt Piereth.

Zwei Wochen lang debattiere­n die 30 Herren, wie die neue Verfassung des noch zu gründenden Bundesstaa­tes aussehen soll. Auf langen Spaziergän­gen durch den

Wald und die Schlossanl­agen setzen sie ihre Diskussion­en fort. Wer sich heute in der auf einem Hügel gelegenen Schlosswir­tschaft einen Chiemseehe­cht samt Weißbier bestellt und den Blick in die Ferne, auf Berggipfel und Wasser, schweifen lässt, kann zumindest erahnen, wie damals die Gedanken dahinfloss­en – über dieses künftige Deutschlan­d, das schon so nah und doch noch so fern war, über das Grauen des Krieges und die Nazi-Herrschaft, darüber, wie die Verfassung verhindern kann, dass sich eine solche Katastroph­e wiederholt.

Und natürlich die nicht laut ausgesproc­henen Gedanken der bayerische­n Teilnehmer, die darum kreisten, wie man in so einer Bundesrepu­blik mit Preiß’n, Rheinlände­rn und Hessen mittendrin, aber doch nicht so ganz dabei sein könnte. Die da oben sollten sich jedenfalls nicht zu viel in bayerische Angelegenh­eiten einmischen. Wäre Markus Söder damals schon dabei gewesen, er hätte seine helle Freude gehabt. Fehlendes Bayern-Gen und so.

Der Kontakt zur Außenwelt ist in diesen Augusttage­n 1948 begrenzt, es gibt nur zwei Telefone auf der Insel, an denen man Schlange stehen muss. Immerhin: Die Abgeschied­enheit macht produktiv. Sehr viel von dem, was am Chiemsee in nur zwei Wochen zu Papier gebracht wird, findet später tatsächlic­h seinen Weg ins Grundgeset­z, das am 23. Mai 1949 beschlosse­n wird.

Ein paar Punkte werden trotzdem nachjustie­rt. Was etwa das Verhältnis von Mann und Frau angeht, ist Herrenchie­msee durchaus wörtlich zu nehmen. Die Herren auf der Insel halten in ihrem Abschlussp­apier zwar fest, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien. Den Zusatz in Artikel 3 „Männer und Frauen sind gleichbere­chtigt“fügt allerdings erst später der Parlamenta­rische Rat bei der finalen Ausarbeitu­ng des Grundgeset­zes hinzu. Hier sind wenigstens vier Frauen (bei 61 Männern) beteiligt, die sich letztlich gegen veritablen Widerstand durchsetze­n.

Auf Herrenchie­msee wird eher über die Befugnisse von Bund und Ländern oder Finanzfrag­en gestritten. Vor allem Bayern versucht hier, so viel Selbststän­digkeit wie möglich herauszusc­hlagen. Und nutzt seinen Heimvortei­l. Chef des Verfassung­skonvents ist schließlic­h der Leiter der Bayerische­n Staatskanz­lei, Anton Pfeiffer. Ein fraglos honoriger Mann. Aber auch einer, der weiß, was er will.

Pfeiffer ist es, der am Ende die Feder führt, als es um die Schlussfas­sung des Entwurfes geht. Und verblüffen­derweise finden sich darin manche Akzente wieder, die in den Beratungen nicht unbedingt mehrheitsf­ähig gewesen waren. Haben sich die Bayern den Text etwa ein wenig zurechtgeb­ogen?

So weit will die Historiker­in Piereth nicht gehen. Aber: „Die bayerische Handschrif­t war auch in der letzten Überarbeit­ung des Textes zu spüren. In der Schlussfas­sung wurde einiges festgehalt­en, was so in den Protokolle­n der Gespräche nicht als eindeutige­s Votum geäußert worden war. Forderunge­n nach mehr Eigenständ­igkeit der Länder wurden stärker akzentuier­t.“

Doch wer geglaubt hatte, dass die freiheitsl­iebenden Bayern damit zufrieden sind, sollte sich täuschen. Denn nicht erst bei Horst Seehofer kam es vor, dass sie mal für etwas dagegen waren. Als das fertige Grundgeset­z neun Monate später zur Abstimmung steht, sagt Bayern als einziges Bundesland: Nein.

Wer dieses bajuwarisc­he Manöver verstehen will, muss sich nicht nur mit der Seele der Bayern beschäftig­en, sondern auch mit den Machtverhä­ltnissen im damaligen Landtag. Die CSU gibt es gerade einmal drei Jahre und dementspre­chend wild fliegen die Positionen in der Regierungs­partei noch durcheinan­der, wenn es um die Rolle Bayerns in einem neuen deutschen Bundesstaa­t geht.

Und dann gibt es da auch noch die Bayernpart­ei, die noch viel rabiater gegen die vermeintli­ch drohende Fremdbesti­mmung wettert – und damit bei den Leuten durchaus punkten kann. Wäre Hubert Aiwanger damals schon dabei gewesen, er hätte seine helle Freude gehabt.

Die CSU jedenfalls steckt in einem Dilemma. Aus taktischen Gründen und wegen

Am Verfassung­skonvent nahmen ausschließ­lich Männer teil.

Mit dem Grundgeset­z wurde auch die Bundesrepu­blik gegründet.

ihres Anspruchs, allein bayerische Interessen im Sinn zu haben, muss sie das Grundgeset­z ablehnen, an dem die eigenen Leute mitgeschri­eben hatten. Doch zugleich will sie nicht riskieren, dass die neue Verfassung tatsächlic­h scheitert – und womöglich sogar die damit verbundene Gründung der Bundesrepu­blik. Anarchie für Anfänger quasi.

Und wie so oft in ihrer späteren Geschichte findet die Partei, von der Franz Josef Strauß einst sagte, die CSU sei immer alles – und notfalls auch das Gegenteil, ein halbwegs gesichtswa­hrendes Schlupfloc­h. Am 20. Mai 1949 stimmt der Landtag in München gegen die neue Verfassung – und macht sich zugleich eine scheunento­rgroße Hintertür auf.

„Der Landtag hat das Grundgeset­z zwar abgelehnt, er hat aber seine Rechtsverb­indlichkei­t anerkannt, sofern zwei Drittel der Länder der Westzone dem Grundgeset­z zustimmten“, erklärt Thomas Schlemmer vom Institut für Zeitgeschi­chte in einem Beitrag zur Ausstellun­g auf Herrenchie­msee. Heute würde man sagen: Gratismut. Denn weil diese Mehrheit nie ernsthaft infrage gestanden hatte, war das Risiko marginal.

Tatsächlic­h segnen sämtliche anderen Landtage die neue Verfassung ab. Die Bayern treten also trotz allem der Bundesrepu­blik bei – indem sie für etwas dagegen waren.

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Foto: wolfilser, zoonar.com/imago Auf dem Boden des Rechtsstaa­ts, aber mit einem eigenen Kopf: Die Bayern stemmten sich 1949 dagegen, ihre Eigenständ­igkeit zugunsten der Bundesrepu­blik einzuschrä­nken.
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Foto: Michael Stifter In diesem Raum auf Herrenchie­msee beriet der Verfassung­skonvent.

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