Hamburger Morgenpost

Das ist der irre S-Bahn-Surfer

Marcel O. über sein gefährlich­es Hobby und einen Unfall

- Von HASAN GÖKKAYA, ANASTASIA IKSANOV und VOLKER SCHIMKUS

Was für ein Wahnsinn! Vor einer Woche sprang ein 32Jähriger auf die Kupplung mehrerer S-Bahnen, klammerte sich fest – und „surfte“so durch Hamburg. Die MOPO hat den Mann getroffen, der so sein Leben aufs Spiel setzt: Er heißt Marcel O., ist Serientäte­r und wäre vor 20 Jahren bereits fast gestorben. Um 13 Uhr spaziert Marcel O. am vergangene­n Mittwoch mit einer leeren Cola-Flasche in der Hand in die S-Bahn-Haltestell­e Sternschan­ze. Die S 21 fährt ein – und O. startet sein verrücktes Manöver: Der 32-Jährige springt am Zugende auf den Puffer, stellt seine Füße auf die Kupplung, klemmt seine Pfandflasc­he unter die Scheibenwi­scher und hält sich fest. Als die S-Bahn losfährt, trauen Zeugen ihren Augen nicht: Da fährt ein Mann auf der SBahn mit!

Bis die alarmierte Polizei Marcel O. an dem Tag stellen kann, „surft“er noch auf drei weiteren SBahnen – unter anderem auf der S 31 von Hammerbroo­k nach Veddel und zurück. Zwischen den Stationen fahren Züge Tempo 80! Pause macht er zwischendu­rch nur einmal – um seine Pfandflasc­he in einer Edeka-Filiale abzugeben ...

Für die Bundespoli­zei ist klar: Der Mann hat sich extrem dumm verhalten – auch weil sich im Gleisberei­ch Stromschie­nen mit 1200 Volt befinden. Und was denkt Marcel O.?

„Ich habe damit vor 20 Jahren angefangen – ich musste einfach wissen, ob ich es noch draufhabe“, sagt er – und betont: „Ich schäme mich aber schon dafür, wenn mich Kinder beim Surfen sehen. Denn

das soll bloß keiner nachmachen!“

Trotz des schlechten Gewissens – aufs lebensgefä­hrliche „Surfen“hat Marcel O. nie ganz verzichtet. Bereits vier Strafverfa­hren wurden gegen ihn eingeleite­t, das fünfte kommt nun dazu.

Was treibt einen dazu, auf fahrende Züge zu steigen? „Anfangs rutscht einem wirklich die Seele in die Hose“, sagt er. „Aber irgendwann genießt man nur noch.“

Ein Rausch, der Marcel O. schon in seiner Kindheit wie ein Magnet anzog. Als er 12 Jahre alt war, bezahlte er dafür fast mit seinem Leben. Anders als heute, hingen sich S-Bahn-Surfer zu der Zeit nicht an das Ende des Wagens. Damals konnte man mit etwas Kraft die Türen per Hand öffnen, sich rauslehnen oder sogar rausklette­rn und von draußen ranhängen – was extrem gefährlich ist. Immer wieder kam es früher zu dramatisch­en Unfällen.

Am 6. Juni 1996 gegen 11 Uhr verliert auch Marcel O. beim Surfen die Kontrolle. Er knallt gegen ein Schild, das bis heute zwischen der Süderelbbr­ücke und der Tunneleinf­ahrt nach Harburg steht. Mehrere Wochen liegt er im Koma.

Heute hat Marcel O. einen Schwerbehi­ndertenaus­weis, lebt in einem Übergangsw­ohnheim für Obdachlose. Seine Probleme im Leben hätten ihn wohl auch zum „Surfen“getrieben, sagt er: „Bei der Arbeitssuc­he kam ich nicht weiter, niemand traute mir etwas zu. Also machte ich weiter mit dem Surfen, um mir zu beweisen: ,Ich bin stark.‘“

Jetzt aber habe er genug von seinem gefährlich­en Hobby: Am Ende des Gesprächs versichert O.: Ab jetzt fahre er nur noch in statt auf den S-Bahnen.

„Anfangs rutscht einem die Seele in die Hose.“Marcel O. (32), S-Bahn-Surfer

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Arme und Beine fest an die S-Bahn geklammert: So „surfte“der 32-Jährige von Station zu Station.
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 ??  ?? Zwischen Veddel und Hammerbroo­k fuhr die S-Bahn am vergangene­n Mittwoch mit Tempo 80 – Marcel O. hängt hinten am Zug. Marcel O. (32) in Surfer-Pose: Sein gefährlich­es Hobby hat ihn schon mal ins Koma gebracht.
Zwischen Veddel und Hammerbroo­k fuhr die S-Bahn am vergangene­n Mittwoch mit Tempo 80 – Marcel O. hängt hinten am Zug. Marcel O. (32) in Surfer-Pose: Sein gefährlich­es Hobby hat ihn schon mal ins Koma gebracht.
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