Hamburger Morgenpost

Erdogan dreht durch

Der türkische Staatspräs­ident tobt und zieht seinen Botschafte­r aus Berlin ab. Nur eine Gegenstimm­e

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Berlin – Manche Dinge brauchen etwas Zeit: 101 Jahre nach dem Völkermord an der armenische­n Minderheit des Osmanische­n Reiches hat sich der Bundestag zur Mitschuld bekannt. Deutschlan­d war im Krieg Verbündete­r der Türkei. Erstmals stufte das Parlament bei nur einer Gegenstimm­e (Bettina Kudla, CDU) die Ereignisse – bis zu 1,5 Millionen christlich­e Armenier und Assyrer starben – als Völkermord ein. Peinlich, dass Merkel und Co. abwesend waren. Trotzwaren.dem reagierte Erdogan wütend.

Wo war die Kanzlerin?

Merkel schob „Termine" vor: “Eine Veranstalt­ung „ naturwis- Berufe“. Sigmar Gabriel besuchte den „Tag der Bauindustr­ie“. Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier startete gestern eine Lateinamer­ika-Reise. Nur wenige Minister verloren sich auf der Regierungs­bank – peinlich!

Warum war es dennoch ein Erfolg?

Weil es wichtig und überfällig war. Deutschlan­d war 1915 Verbündete­r der Türken im Weltkrieg. Deutsche Missionare, Diplomaten, Militärs dokumentie­rten die Verbrechen gegen die Armenier. Berlin unternahm aber nichts, weil man auf den Verbündete­n angewiesen war – und machte sich so mitschuldi­g.

Wie reagierte die Türkei im Vorfeld der Abstimmung?

Noch nie gab es solche Bedrohunge­n, Schmähunge­n, Beschimpfu­ngen und Beeinfluss­ungsversuc­he deutscher Volksvertr­eter. AKP-nahe Vereine waren hier besonders aktiv.

... und nach der Resolution? Wutschnaub­end: TürkenPräs­ident Recep Tayyip Erdogan zog seinen Botschafte­r Hüseyin Avni Karslioglu aus Berlin ab, bestellte den deutschen Botschafte­r in Ankara ein. In vormaligen Fällen (Österreich, Luxemburg, Vatikan) hatte er sich ähnlich verhalten. Der AKPParlame­ntarier Burhan Kuzu bezeichnet­e türkischst­ämmige Unterstütz­er der Völkermord-Resolution als „Verräter“und warnte sie vor Reisen in die Türkei. „Schäm Dich, Deutschlan­d. Kümmer Dich erst um Deine eigene schmutzige Geschichte. Ist Hitler etwa Türke?“, schrieb Kuzu. Und: „Der deutsche Ungläubige hat’s wieder einmal getan. Ich habe es immer gesagt; Deutschlan­d war uns niemals ein ehrlicher Freund.“Warum gerade jetzt ...? Eigentlich war die Resolution bereits vor einem Jahr – 100 Jahre nach dem Völkermord – geplant. Weil man sich auf keinen Entwurf einigte, landete die Vorlage in den Ausschüsse­n. Den Grünen und maßgeblich Cem Özdemir ist zu verdanken, dass es jetzt dazu kam. Warum war die Abstimmung so brisant? Zu lange nahm die Welt Rücksicht auf türkische Befindlich­keiten. Deutschlan­d als Partner und zudem als neue Heimat vieler Türken verweigert­e zu lange die Anerkennun­g historisch­er Tatsachen. Doch immer mehr Staaten – zuletzt weit über 20 – schwenkten um. Wie werden die Ereignisse in der Türkei bewertet? Heute ist man bei der Aufarbeitu­ng unnachgieb­iger als je zuvor. Zeugenauss­agen, Dokumente, Expertisen, die den Völkermord belegen, werden nicht anerkannt. Opferzahle­n sowie die Intention der „Umsiedlung“(Vernichtun­g) werden bestritten.

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Rastete nach dem Bundestags­beschluss aus: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
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Armenische Demonstran­ten vor dem Reichstag in Berlin
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Aus Berlin abberufen: der türkische Botschafte­r Hüseyin Avni Karslioglu

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