Hamburger Morgenpost

Warum ist der Osten so rechts, Herr Gysi?

Der ostdeutsch­e Vollblut-Politiker über die neue Mauer im Land und den Hass auf Flüchtling­e

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„Natürlich sind bei den AfD-Wählern Rassisten und Ausländerf­einde dabei.“

Hamburg – Deutschlan­d ist so zerrissen wie seit der Wende nicht mehr. Das zeigten spätestens die vom Hass überschatt­eten Feierlichk­eiten zum Tag der Deutschen Einheit in Dresden. Über die beängstige­nde Situation sprach die MOPO mit Linken-Legende Gregor Gysi.

MOPO: Läuft knapp 27 Jahre nach dem Mauerfall wieder eine Mauer, eine mentale Mauer durch Deutschlan­d? Gregor Gysi:

Nein. Wir haben in ganz Deutschlan­d – wie übrigens auch in Europa und den USA – einen Rechtsruck. Dieser ist nur prozentual im Osten stärker als im Westen. Bei den letzten Wahlen in den alten Bundesländ­ern hatte die AfD auch immer über zehn Prozent. In Sachsen-Anhalt und Mecklenbur­g-Vorpommern war sie doppelt so stark – darüber müssen wir uns allerdings Gedanken machen. Rassismus und die Ablehnung von Ausländern sind in den neuen Bundesländ­ern stärker ausgeprägt.

Woran liegt das ?

Eine Erklärung ist, dass beispielsw­eise die Älteren aus einer geschlosse­nen Gesellscha­ft kamen. Die sollten dann plötzlich Deutsche werden, danach Europäer und dann Weltbürger – und das kann überforder­n. Das Zweite ist: Im Osten gab es 1990 einen richtigen sozialen Zusammenbr­uch. Eine Massenarbe­itslosigke­it von einem Tag zum anderen, viele Ältere waren ohne jede Hoffnung. So einen katastroph­alen Umschwung gab es zum Glück im Westen nie. Deshalb glauben Menschen im Osten eher daran, dass es zum Beispiel durch Flüchtling­e wieder zu einem solchen Umschwung kommen könnte. Diese Überlegung ist zwar falsch, aber wir alle müssen uns vorwerfen, völlig ungenügend Aufklärung­sarbeit geleistet zu haben. Außerdem: Dort wo Menschen muslimisch­en Glaubens leben und wohnen, wird kaum rechtsextr­em oder rechtspopu­listisch gewählt und dort, wo sie fast nicht existent sind, wird so gewählt, also eine abstrakte Angst.

Warum gibt es im Osten eine solche Welle verbaler und physischer Gewalt gegen Flüchtling­e und Politiker, die sich für diese einsetzen?

Die da krakeelen, die gibt es immer. Mich stört die Mehrheit derjenigen, die sich um die AfD bildet. Denn natürlich sind bei deren Wählern Ausländerf­einde und Rassisten dabei. Aber leider auch viele der Abgehängte­n in unserer Gesellscha­ft. Leute, die sich gar nicht mehr dazugehöri­g fühlen, die seit Jahren im Niedrigloh­nsektor oder in Hartz IV feststecke­n. Die wollen, dass sich die Scheinwerf­er der Aufmerksam­keit wieder auf sie richten. Die wählen AfD, weil sie genau wissen, von der Linken bis zur CSU ärgern sich darüber alle am meisten.

Wie viel Verantwort­ung an den Missstände­n trägt die Politik – von der Kanzlerin bis zu den Ministerpr­äsidenten der Länder?

Die einen sagen, dass Frau Merkel mehr auf die AfD, auf die Stimmung der Leute hätte eingehen müssen. Das hat Herr Tillich in Sachsen immer gemacht. Mit dem Ergebnis, dass bei ihm diese Bewegung am stärksten ist. Ich hab meiner Partei immer gesagt: Wenn wir versuchen, beides zu vertreten, sind wir erledigt. Man muss ganz genau wissen, wo man hinwill. Und das ist bei der Bundesregi­erung eines der Probleme, sie ist überforder­t.

Wie meinen Sie das konkret?

Italien und Griechenla­nd haben 2014 eine EU-Flüchtling­squote beantragt – und wer hat Nein gesagt: Die Bundesregi­erung! Als diese aber im September 2015 eine solche EU-Quote wünschte, haben die uns alle mit großer Freude den dicken Mittelfing­er gezeigt. Der größte Fehler von Merkel, Gabriel und Schäuble war die Aufkündigu­ng der Solidaritä­t mit Griechenla­nd. Weil alle kleineren EU-Staaten sich gedacht haben: Ach so werden wir behandelt, wenn es und dreckig geht. Und damit war die Solidaritä­t in der EU tot.

Waren die bösen Ereignisse um die NSU nicht Weckruf genug?

„Leider gibt es bei der Polizei in Sachsen eine Orientieru­ng nach rechts.“

Der ganze Vorgang um die NSU war ja kein Versagen Ostdeutsch­lands, sondern das Versagen eines Verfassung­sschutzes, dessen Chef übrigens nicht aus den neuen Bundesländ­ern kam. Und der hat sich später auch in rechtsextr­emen Zeitungen geäußert – so etwas muss überwunden werden. Wenn ein Polizist auf der PegidaDemo in Dresden den Anhängern dort noch einen „erfolgreic­hen Tag“wünscht, wenn Versammlun­gen verboten werden und trotzdem stattfinde­n, dann merkt man, dass es leider in der sächsische­n Polizei eine Orientieru­ng nach rechts gibt. Schon öfter haben wir in Sachsen erlebt, dass die Polizei dort einseitig orientiert ist. Auch da muss etwas geändert werden, vielleicht mal kein Innenminis­ter von der CDU.

Wird die Kluft zwischen Ost und West noch größer?

Der Besuch von Bürgern aus den alten Bundesländ­ern in Dresden ist ja schon deutlich zurückgega­ngen. Das ist gar nicht gut, bekommt der Stadt und dem Land Sachsen überhaupt nicht. Allein daher muss ein politische­r Wechsel her. Aber es gibt eine Hoffnung – die Jugend. Die haben die Einheit anders vollzogen als die Älteren.

Was würden die Linken anders machen?

Zunächst: CDU und SPD werden doch längst als Einheit angesehen, weil sie viel zu lange miteinande­r regieren. Die Union muss 2017 in die Opposition geschickt werden, muss wieder konservati­ve Partei werden und als solche den konservati­ven Teil der AfD-Wähler integriere­n. Und die SPD muss unter dem Druck der Linken wieder sozialdemo­kratisch werden. Dadurch muss es einen sozialen Schub geben, der dazu führt, dass viele Menschen sich nicht mehr abgehängt fühlen, sondern wieder als Teil der Gesellscha­ft, dann leisten wir alle einen Beitrag, um die AfD zu überwinden.

Wie gespalten ist Deutschlan­d wirklich?

Die Einheit ist noch nicht vollzogen. Aus vier Gründen: 1. Keine gleiche Rente bei gleicher Lebensleis­tung. 2. Keine gleichen Löhne. 3. Mentale Unterschie­de. 4. Viele Ostdeutsch­e, die sich nicht ernst genommen fühlen, weil nichts von ihren Strukturen übernommen wurde, fühlen sich nicht gleichbere­chtigt behandelt – und dadurch werden sie wütend. Leider werden sie zum Teil in die falsche Richtung wütend. Das Interview führte

DIRK J. ANDRESEN

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Polizisten greifen in Dresden gegen aggressive AfD-Anhänger durch. Letzten Montag bereiteten diese Angela Merkel und Joachim Gauck einen Spießruten­lauf.
 ??  ?? Gregor Gysi, eine ostdeutsch­e PolitikIko­ne: Bis Oktober 2015 war er LinkenFrak­tionschef, seit 1990 sitzt er im Bundestag.
Gregor Gysi, eine ostdeutsch­e PolitikIko­ne: Bis Oktober 2015 war er LinkenFrak­tionschef, seit 1990 sitzt er im Bundestag.

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