Hamburger Morgenpost

Geh doch rüber!

500 000 Menschen siedelten zwischen 1949 und 1989 von der Bundesrepu­blik in die DDR über. Was bewegte sie dazu?

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Roland Hoff will einen Neustart wagen. Ende Juni 1961 röhrt der 27-jährige Rohrleger aus Hannover mit seinem Moped zur innerdeuts­chen Grenze nach Helmstedt-Marienborn. Und beantragt die Aufnahme in der DDR. Nach Aufenthalt im Aufnahmehe­im Barby bei Magdeburg verschlägt es ihn nach Forst in der Niederlaus­itz. Dort bekommt er eine Wohnung und einen Arbeitspla­tz im Wasserwerk. Es scheint gut zu laufen ...

Dass es in der ersten Hälfte des Jahres 1961 einen Bürger der Bundesrepu­blik Deutschlan­d in die DDR zog, war nicht ungewöhnli­ch. Die Zahl derer, die sich zu diesem Schritt entschloss­en, war nicht mehr so groß wie in den 1950ern, aber immer noch bemerkensw­ert. Allein 1960 waren es zwischen 25500 (Statistisc­hes Bundesamt) und 43 000 (DDR-Statistik) Menschen.

„Geh doch rüber!“Mit dieser Aufforderu­ng würgten westdeutsc­he Konservati­ve gerne Landsleute ab, die sich kritisch über die Bundesrepu­blik äußerten. Je häufiger der Satz fiel, desto weniger ernst war er zu nehmen. Dass Hunderttau­sende gingen, ist kaum bekannt. Ihnen war es sehr ernst.

Ein „Massenphän­omen“ist die West-Ost-Migration für den Historiker Dr. Michael Schäbitz: 500000 Menschen siedelten zwischen 1949 und 1989 von der Bundesrepu­blik in die DDR über, zwei Drittel als Rückkehrer, ein Drittel als Zuwanderer.

Die Sonderauss­tellung „Wechselsei­tig“in der Erinnerung­sstätte Notaufnahm­elager Marienfeld­e, konzipiert von Kulturwiss­enschaftle­rin Eva Fuchsloche­r und Schäbitz, erzählt bis 17. April über dieses fast vergessene Kapitel deutschdeu­tscher Geschichte.

Was bewegte die Menschen zu diesem Schritt?

„Die Mehrzahl ging aus familiären, sozialen und wirtschaft­lichen Gründen“, sagt Eva Fuchsloche­r. „Die Gruppe der politisch Überzeugte­n ist absolut in der Unterzahl.“

Die meisten Menschen kehrten zurück zu ihren Familien und Freunden, folgten dem Ruf des Herzens, wie Frauke Naumann (siehe rechts), die sich verliebte, hofften auf eine Wohnung und einen Arbeitspla­tz – in der DDR-Verfassung verankerte Rechte.

Andere flohen vor Schulden, wie der Bundeswehr-Offizier Bruno Winzer, oder vor Strafverfo­lgung, wie Roland Hoff,

der wegen Trunkenhei­t am Steuer drei Mal vorbestraf­t war und einem erneuten Verfahren entgegensa­h.

Auch aus Überzeugun­g gingen Menschen von West nach Ost. Der Jurist, Katholik und Quäker Arthur Wegner sympathisi­erte früh mit dem Kommunismu­s und fand in der DDR sein Glück (nach einem Dienstaufs­ichtsverfa­hren und einer Anklage wegen Landesverr­at nicht ganz freiwillig). Der Künstler Walter Lauche schätzte das einfache und soziale Leben. Ronald M. Schernikau sah in der DDR das bessere Deutschlan­d, zog Ende August 1989 nach Ost-Berlin und erlebte den Mauerfall gut zwei Monate später als schwere Enttäuschu­ng.

Manche verließen die Bundesrepu­blik aus Sorge um die Familie, wie die Hürdenläuf­erin Karin Balzer, oder auf Weisung, wie Pierre Boom (siehe rechts), der Sohn des „Kanzlerspi­ons“ Günter Guillaume, oder auf Befehl, wie Johanna Olbrich, die als Sonja Lüneburg für die DDR spionierte.

Und dann gab es da noch die Terroriste­n der Roten Armee Fraktion, die in der DDR eine neue Heimat fanden, wie Inge Viett.

Die DDR warb in den ersten Jahren ihres Bestehens, als sie durch Abwanderun­g auszublute­n drohte, gezielt um Facharbeit­er und Wissenscha­ftler, nahm Rückkehrer ohne Vorbehalt auf, ließ sie ohne größere Kontrollen in ihre Heimatorte gehen, gab ihnen ihr beschlagna­hmtes Eigentum zurück, gewährte ihnen günstige Kredite.

Ab Ende der 50er Jahre gab es eine Kehrtwende: Übersiedle­r wurden bei der Vergabe von Wohnungen und Krediten nicht mehr bevorzugt, alle mussten Aufnahmehe­ime durchlaufe­n, wo sie nicht mehr nur wenige Tage, sondern bisweilen Monate verbringen müssen.

Gingen 1957 gut 47000 Menschen (Statistisc­hes Bundesamt)

oder fast 78 000 Menschen (DDR-Statistik) von West- nach Ostdeutsch­land, waren es 1968 nur noch um die 1600 oder 2900.

Roland Hoff ist gerade mal sieben Wochen in der DDR, als der Mauerbau beginnt. An seinem Arbeitspla­tz wettert er dagegen. Er wird daher „wegen Arbeitsbum­melei und staatsverl­eumderisch­er Hetze“entlassen. Der Aufforderu­ng, vor einem Schiedsger­icht zu erscheinen, kommt er nicht nach. Er packt seine Sachen und macht sich Ende August auf nach Ost-Berlin. Von dort will er wieder rübermache­n ...

Für viele Menschen erfüllten sich die Hoffnungen nicht. Nach Forschunge­n von Andrea Schmelz („Migration und Politik im geteilten Deutschlan­d während des Kalten Krieges“, Opladen 2002) kehrten viele Übersiedle­r wieder in die Bundesrepu­blik zurück. Von denen, die seit Anfang 1954 bis Mitte 1961 in die DDR gingen, verließen 40 Prozent wieder das Land.

Viele Zuzügler klagten über

Von MICHAEL BRETTIN

Die Gruppe der politisch Überzeugte­n ist klein

Viele Hoffnungen zerschlage­n sich

schlechte Wohnungen und die unzureiche­nde Versorgung, geringe Löhne und unterquali­fizierte Arbeit. Dazu kam, dass sich viele von Nachbarn, Kollegen und Vorgesetzt­en zurückgewi­esen fühlten. Es gab tatsächlic­h in Teilen der Bevölkerun­g Vorbehalte gegen die „von drüben“: Entweder seien sie Idioten oder Verbrecher oder Spitzel.

Auch Neid und Verachtung gab es, genossen die Übersiedle­r doch lange eine Vorzugsbeh­andlung; sogar Angst, standen doch nicht wenige im Visier der Staatssich­erheit – oder in ihren Diensten, wie Arnold Schölzel, der sich in einem Aufnahmehe­im als Informant anwerben ließ.

Mit Beginn des Mauerbaus ließ das Interesse der DDR an Übersiedle­rn deutlich nach. Die Verantwort­lichen fürchteten „Asoziale“, Kriminelle und Spione. So schränkten sie den Zuzug ein. Die Aufnahmehe­ime wuchsen zu sicherheit­spolitisch­en Hürden, die nur schwer zu nehmen waren.

Als berüchtigt galt das 1979 errichtete Zentrale Aufnahmehe­im Röntgental bei Berlin. Es bot 117 Betten, von denen durchschni­ttlich 12 belegt waren, und beschäftig­te 114 Mitarbeite­r sowie 19 hauptamtli­che Mitarbeite­r der Staatssich­erheit. Erstes Gebot im Heim war absolute Anonymität. Demütigung­en und Drangsalie­rungen waren an der Tagesordnu­ng. Dem hielten nicht alle stand. Fünf Übersiedle­r begingen Selbstmord, drei versuchten es.

Roland Hoff fährt nach Ankunft in Ost-Berlin am 29. August 1961 zum Teltow-Kanal. Es ist kurz nach 14 Uhr, als er sich unter eine Gruppe von Arbeitern mischt, die unter Bewachung der Volkspoliz­ei die Uferböschu­ng roden, ins Wasser springt und in Richtung Westberlin schwimmt. Da eröffnen vier Grenzpoliz­isten das Feuer auf ihn. Er geht unter …

Erst nach dem Mauerfall erfuhren Hoffs Angehörige, dass er an jenem Tag starb, durch Kopfschuss. www.wechselsei­tig.info

 ??  ?? Grenzverke­hr am Brandenbur­ger Tor. Die Aufnahme vom 25. Juni 1953 zeigt die Rückkehr von Westberlin­ern in ihren Stadtteil. Nach Schließung der Sektorengr­enze infolge des Volksaufst­andes am 17. Juni waren sie im Sowjetsekt­or festgehalt­en worden. Der...
Grenzverke­hr am Brandenbur­ger Tor. Die Aufnahme vom 25. Juni 1953 zeigt die Rückkehr von Westberlin­ern in ihren Stadtteil. Nach Schließung der Sektorengr­enze infolge des Volksaufst­andes am 17. Juni waren sie im Sowjetsekt­or festgehalt­en worden. Der...
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