Hamburger Morgenpost

Manchmal bin ich neidisch

Leben mit Behinderun­g

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Die 31-jährige Bloggerin Ju leidet an einer seltenen neurologis­chen Krankheit und ist seit sechs Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Zum heutigen Internatio­nalen Tag der Menschen mit Behinderun­g beschreibt sie ihr Leben mit Kind, Mann und Rollstuhl.

„Ich bin Mama. Manchmal eine ganz normale Mama. Manchmal aber auch eine Mama, die neidisch ist. Ich habe schlichtwe­g nicht immer die Kraft, Dinge so zu bewältigen, wie ich sie mir wünsche. Denn lebe ich über meine Grenzen, so wirft uns das alle wochenlang zurück. Meine Energieres­erven sind begrenzt. Ich bin schnell erschöpft. Dazu kommt, dass auch die Kraftreser­ven meines Mannes begrenzt sind. Haushalt, Junior, meine Pflege, Treppe rauf- und runtertrag­en, jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse. Ich kann und will diesen Kraftakt nicht mehrmals täglich von ihm verlangen.

Ich übe mich schon längere Zeit darin, im Energiespa­rmodus zu leben. Ich habe gelernt – versuche jeden Tag aufs Neue zu lernen – Vorhaben zu reduzieren, Aufgaben zu delegieren, um Hilfe zu bitten, Hilfe anzunehmen und Unvollkomm­enheit auszuhalte­n. An manchen Tagen kann ich das gut wegstecken, an anderen bin ich unausgegli­chen und ich mag mich und meine Ungeduld selbst nicht. Ich musste meine Maßstäbe heruntersc­hrauben – immer wieder – und jeden Tag aufs Neue mit mir selbst verhandeln, was denn gerade möglich ist.

Doch das gelingt nicht immer. Zwischen Gelassenhe­it und Akzeptanz, Traurigkei­t und Wut ist es manchmal nur ein sehr schmaler Pfad. Wenn unsere Freunde am Sonntagmit­tag eine Unternehmu­ng mit dem Rad machen, verabschie­de ich mich zum Mittagssch­laf. An manchen Tagen ist es o.k. für mich. An anderen macht es mich traurig. Ich war früher so agil und sehr viel unterwegs. Heute ist es ein tägliches Abwägen.

Es ist nicht das Gefühl, dass ich mehr leisten müsste, es ist vielmehr diese Sehnsucht nach dem (Er-)Leben. Die Dinge, die ich gerne tun würde, werden zu einem kleinen Berg. Und der wird von Tag zu Tag größer, und irgendwann bin ich wieder am Punkt, an dem ich neidisch werde. Weil ich es allein nicht schaffe.

Aber es gibt auch andere Tage. Ein Nachmittag im Garten. Das Lachen meines Sohnes und das entspannte Zusammense­in mit meinem Mann. Ich kann daraus sehr viel Kraft schöpfen. Der kleine Ausflug oder Momente, in denen einfach alles möglich erscheint.

Und ganz unabhängig davon, wie fit ich gerade bin: Die Liebe zu meinen Männern und meiner Familie ist voller Kraft. Auch wenn ich im Bett liege und mich so gut wie gar nicht bewegen kann. Ich kann für meine Familie da sein. Ich kann ihnen zuhören. Sie lieben mich so, wie ich bin. Auch wenn es manchmal für alle schwer ist. Junior stellt immer häufiger die Frage: ,Mama, gehst du mit?‘ Ich kann sie nicht immer bejahen. Aber ich kann für ihn da sein.“

 ??  ?? Ju bloggt unter wheelymum.com über die anstrengen­den und schönen Momente ihres Lebens. Dort erschien auch ihr Text „Mama mit wenig Kraft“.
Ju bloggt unter wheelymum.com über die anstrengen­den und schönen Momente ihres Lebens. Dort erschien auch ihr Text „Mama mit wenig Kraft“.
 ??  ?? Ausflüge mit ihrem kleinen Sohn sind für Mutter Ju keine Selbstvers­tändlichke­it und sie geben ihr viel Kraft.
Ausflüge mit ihrem kleinen Sohn sind für Mutter Ju keine Selbstvers­tändlichke­it und sie geben ihr viel Kraft.

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