Fall Amri: Das Versagen der Behörden
Bombenpläne, Terrorabsicht, Dschihad-Schule: Sicherheitsdienste kannten Gewaltpotenzial Trotzdem nur Warnstufe 5 für Tunesier. Gibt es jetzt einen Untersuchungsausschuss?
Berlin – Noch zehn Minuten vor seiner Lkw-Fahrt in den Berliner Weihnachtsmarkt machte IS-Terrorist Anis Amri ein Selfie im Cockpit und chattete per Handy mit Mitwissern. Immer neue Details kommen heraus über den Ablauf der Horror-Nacht auf dem Breitscheidplatz (12 Tote, 50 Verletzte). Sie zeigen: Die Behörden wussten sehr viel über Amris Gewaltbereitschaft. Reichlich Stoff für einen Untersuchungsausschuss, vielleicht auch für den Rücktritt der Verantwortlichen.
Ein 40-jähriger tunesischer Geschäftsmann, mit dem Amri Kontakt hatte, kam gestern wieder frei. Es gebe keine Beweise, dass er Mitwisser war, erklärte die Bundesanwaltschaft. Für André Schulz vom Bund Deutscher Kriminalbeamter birgt der Fall aber Sprengstoff. Er könne sich zu einem „Desaster für die Sicherheitsbehörden entwickeln, ähnlich wie das Nichterkennen des rechtsextremen NSU-Trios“. Es sei „völlig unverständlich, warum dieser gefährlich Mann nicht inhaftiert wurde“, so Schulz zur „Welt“. Die Kette der Pannen:
Acht Tarnnamen: Laut „Süddeutscher Zeitung“verwendete Anis Amri acht Tarnnamen, darunter Mohammed Hassa (Ägypter), Ahmed Almasri (Ägypter), Ahmad Zarzour (Tunesier) etc. Alle
Alias-Namen seien den Behörden bekannt gewesen. Ein klares Indiz für konspirative Absichten. Sozialbetrug: Laut „Spiegel“hat die Staatsanwaltschaft Duisburg im April 2016 ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs gegen den 24-Jährigen eröffnet – weil er 2015 mehrfach Sozialleistungen bekam.
Religiöser Fanatiker: Staatsschutz und Verfassungsschutz wussten laut „SZ“schon seit Monaten, dass Amri sich in einschlägig bekannten Dschihad-Schulen aufhielt. In Hildesheim in einer Ladenmoschee bei der Nummer 1 des „Islamischen Staates“in Deutschland, dem „Imam ohne Gesicht“Abu Walaa (Top-Rekrutierer des IS), in einer Dortmunder Islam-Schule in der Lindenhorster Straße unter dem Deutsch-Serben Boban S. Dort soll er einen Schlüssel gehabt und geschlafen haben. Der Chemie-Ingenieur Boban S. habe die Expertise zum Bombenbau,
sollen die Staatsschützer notiert haben, als Amri sich im Internet über Chemikalien informierte.
Keine Auflagen: Trotz der Bomben-Pläne und Kontaktaufnahme zum IS mit dem Angebot eines Selbstmordattentats gab es keine Auflagen für Amri. Die Behörden hätten ihm einen Aufenthaltsort vorschreiben können, mit einer täglichen Meldepflicht, hätten ein Handyund Kommunikationsverbot aussprechen können. Es folgten ständig wechselnde Wohnsitze und Aufenthaltsorte, über Ländergrenzen hinweg. Damit torpedierte Amri seine Überwachung. Aber die Behörden nahmen das hin, verloren Amri dann in den Wochen vor dem Anschlag aus den Augen, obwohl über sein Gefahrenpotenzial beraten wurde.
Warnstufe fünf: Amri gehörte zu den Top-540 der islamistischen
„Warum wurde dieser gefährliche Mann nicht inhaftiert?“André Schulz, Kriminalbeamter
„Gefährder“und war laut „SZ“sieben Mal Thema im Gemeinsamen Terror-Abwehrzentrum (DTAZ) in Berlin, zuletzt am 14. Dezember (MOPO berichtete). Zwei Mal wurde die Frage diskutiert, ob Amri einen Anschlag plane. Was als unwahrscheinlich eingestuft wurde. Zwei Mal wurde Amri mit der Prognose fünf belegt (Gewalttat unwahrscheinlich).
Hilfe von NRW-Behörden: Im Landtag in Düsseldorf soll es in einer Sondersitzung des Innenausschusses um die unrühmliche Rolle der NRW-Behörden gehen. Als Amri am 30. Juli eher per Zufall von einem Richter in Ravensbrück in Abschiebehaft genommen wurde, intervenierte die Ausländerbehörde Kleve und holte Amri nach einem Tag – wegen der „ungeklärten Identität“– wieder raus ...