Noten ab!
Bildungsgewerkschaft GEW will Entwicklungsberichte in allen Klassen. Was Schüler, Experten und Hamburgs Politiker zu dem Vorstoß sagen MEINE MEINUNG
Von JANINA HEINEMANN und JANNA MANSFELD
Gerade gab es Halbjahreszeugnisse in Hamburg und für die Schüler der Hansestadt hieß es wieder: Einserjubel oder Notenfrust. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die den Großteil der Lehrer vertritt, regt jetzt an, Schulnoten gänzlich abzuschaffen und durch Berichte zu ersetzen. Das zumindest fordert die Vorsitzende Marlis Tepe (62). Und sorgt damit für eine hitzige Diskussion unter Bildungsexperten.
„Berichte werden den persönlichen Lernfortschritten der Kinder gerechter“, sagt Tepe gegenüber der „Bild“. Karin Prien, schulpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, sieht das jedoch komplett anders: „Noten sind ein belastbares Rückmeldungssystem für Schüler und Eltern“, sagt die Politikerin. „Gemeinsam mit den Lernentwicklungsgesprächen geben Noten einen realen Eindruck vom Leistungsverhalten.“Sie halte nichts von „verklausulierten Formulierungen“, wie man sie aus Arbeitszeugnissen im Berufsleben kennt.
Ihre Fachkollegin Barbara Duden von der SPD sieht das genauso: „Gerain de den höheren Klassen sind Noten sinnvoll. Sie sind
JANINA HEINEMANN
Janina.Heinemann@mopo.de ein für Eltern, Schüler, Unternehmen und Unis festgelegter Kanon und in der Gesellschaft fest verankert.“Formulierungen seien dagegen interpretationsfähig.
Sabine Boeddinghaus, Bildungsexpertin der Linken, ist hingegen der Meinung, dass Schulnoten ins Museum gehören: „Noten sind subjektiv und spiegeln nur punktuelle Ergebnisse wider.“In Berichten würden Lehrer quasi dazu gezwungen, sich mit jedem Schüler individuell auseinanderzusetzen. So würde es ihrer Ansicht nach „mehr Austausch, Reflexion und Verständigung über individuelle Lernwege“geben. Dennoch hält auch Boeddinghaus die Abschaffung von Schulnoten für nicht realisierbar.
Helge Pepperling, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes Hamburg (DLH), spricht sich für einen Mittelweg aus. Noten und Berichte seien gleichermaßen wichtig. „Ein Bericht ohne Erläuterung ist genauso kryptisch wie eine Note ohne Erklärung“, sagt Pepperling. „Irgendwo muss zusammengefasst sein, wo der Schüler steht.“Er erlebe in seinem Lehreralltag, dass Schüler Noten einfordern. „Schüler wollen wissen, wo sie stehen.“Das gelte auch für Schüler mit Förderbedarf.
Spätestens im Abschlusszeugnis müssten jedoch Noten vergeben werden, denn ein Bericht über den individuellen Lernfortschritt helfe zum Beispiel Betrieben, die Auszubildende suchen, bei der genauen Einschätzung nicht weiter.
Auch Peter Albrecht, Sprecher der Schulbehörde, hält die Notenabschaffung für realitätsfern. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, deshalb sind in der Schule Leistungen zu messen und in Noten oder Punkten abzubilden. Das ist ein Gebot der Fairness.“Zudem hätten Umfragen ergeben, dass Schüler ausdrücklich ein Notensystem wünschen. Die MOPO fragte Hamburger Schüler nach ihrer Meinung. Noten abschaffen – was für eine schwachsinnige Forderung. In Klasse 1 und 2 ist es sinnvoll, die Lernfortschritte anhand von Berichten darzustellen. Doch spätestens auf der weiterführenden Schule sind Noten unabdingbar. Erstens: Schüler wollen sich einordnen können. Zweitens: Worte können verschleiern, Zahlen helfen zum Beispiel Unis und Betrieben beim Vergleichen. Drittens: Eine Vier im Zeugnis ist nicht demotivierender als ein Satz, der sagt, dass das Kind nichts versteht. Viertens: Bei rein textbasierten Abschlusszeugnissen würden Betriebe ihre Bewerber wohl vermehrt zu Auswahltests schicken, die dann wieder eine Art Benotung nach sich ziehen würden. Man würde also das böse Erwachen, das Noten für manchen Schüler am Schuljahresende mit sich bringen, nur verzögern. Lilli Andersen (15), St. Pauli: „Noten gehören abgeschafft. Wenn der Lehrer einen nicht mag, gibt’s eine schlechte Note. In einem Bericht ist es schwieriger, den Schüler runterzustufen, nur weil man ihn nicht mag.“