Die Gangs vom Kiez
Warum 300 Mitglieder von berüchtigten Banden durch St. Pauli marschierten
Fast war’s ein Wunder, was da am Sonnabend auf der Großen Freiheit passierte. 300 Männer und Frauen, die sich früher spinnefeind waren, standen Schulter an Schulter, so, als wären sie immer schon dicke Freunde. Wären dieselben Leute vor 30 Jahren aufeinandergetroffen, wäre nicht Lyrik angesagt gewesen… Die Stadtreinigung wäre tags darauf zur Trümmerbeseitigung angerückt. Sie hießen „Streetboys“, „Sparks“, „Champs“, „Big Shots“, „Teds“, „Löwen“, „Mods“: Die Mitglieder der verfeindeten Straßengangs der 80er Jahre friedlich zu versammeln, über alle weltanschaulichen Unterschiede hinweg Freundschaft zu schließen, das ist die Idee von „Gangs United“, dem großen GangGipfel. Dass es ihn gibt – dieses Jahr schon zum dritten Mal – ist allein sein Verdienst: Michel Ruge, ein gebürtiger St. Paulianer.
Der 47-Jährige hat bewegte Jahre hinter sich: Wuchs auf als Sohn eines Bordellbesitzers, war in den 80er Jahren jüngstes Mitglied der „Breakers“. Für ihn war diese Gang so etwas wie eine Ersatzfamilie „Wir fühlten uns als Helden der Straße mit Testosteron als Treibstoff “, sagt er und die Augen leuchten.
Ruge und seine Kumpel trugen olivfarbene Bomberjacken mit dem Gang-Namen drauf. Durch ihr Viertel streiften sie mit einer Körperhaltung, als hätten sie Rasierklingen unter den Armen. So obercool fühlten sie sich, so unbesiegbar. Und wehe, wenn Mitglieder einer verfeindeten Gang ihnen über den Weg liefen. Das bedeutete: Keilerei.
Manche Akteure von damals rutschten in die Kriminalität ab, aber Ruge hat die Kurve gekriegt. Er studierte Politik, machte eine Schauspielausbildung, besaß ein
„Die Helden der Straße, mit Testosteron als Treibstoff“Michel Ruge, „Gangs United“
Café und eine Kampfsportschule und schrieb Bücher. Unter anderem eins über sein Leben: „Der Bordsteinkönig“. Auf dem Cover ist ein Bild von ihm aus Kindheitstagen zu sehen: ein Dreikäsehoch noch, aber schon ’ne Fluppe im Maul …
Obwohl (oder gerade weil) er so eine Jugend hatte, ist heute Gewaltfreiheit Ruges Credo. „Jeder Kampf, den du nicht kämpfst, ist ein gewonnener Kampf“, sagt er. Mit „Gangs United“wolle er den Jugendlichen von heute die Botschaft vermitteln, „dass sie nicht die gleichen Fehler machen sollen wie wir damals!“Ruge: „Ich bin so froh, dass wir es geschafft haben, die Gewalt zu überwinden. Wenn wir es schaffen, schaffen es andere auch.“
Ein eindrucksvolles Zeichen des Friedens setzten die Teilnehmer des Gang-Gipfels, als sie am Sonnabend geschlossen von ihrem Treffpunkt am Hans-Albers-Platz bis zur Großen Freiheit marschierten. Wie es sich für Mitglieder von Straßengangs gehört, warteten sie nicht, bis die Fußgängerampel auf Grün schaltete. Autos wurden einfach mit Handzeichen zum Halten gezwungen, und dann gehörte die Reeperbahn für einige Minuten ihnen. Während des Marsches brüllten sie das raus, was sie alle miteinander verbindet: „Wir sind Hamburger Jungs!“