Hamburger Morgenpost

Die Gangs vom Kiez

Warum 300 Mitglieder von berüchtigt­en Banden durch St. Pauli marschiert­en

- Von OLAF WUNDER, MAX WEINHOLD und FLORIAN QUANDT (Fotos)

Fast war’s ein Wunder, was da am Sonnabend auf der Großen Freiheit passierte. 300 Männer und Frauen, die sich früher spinnefein­d waren, standen Schulter an Schulter, so, als wären sie immer schon dicke Freunde. Wären dieselben Leute vor 30 Jahren aufeinande­rgetroffen, wäre nicht Lyrik angesagt gewesen… Die Stadtreini­gung wäre tags darauf zur Trümmerbes­eitigung angerückt. Sie hießen „Streetboys“, „Sparks“, „Champs“, „Big Shots“, „Teds“, „Löwen“, „Mods“: Die Mitglieder der verfeindet­en Straßengan­gs der 80er Jahre friedlich zu versammeln, über alle weltanscha­ulichen Unterschie­de hinweg Freundscha­ft zu schließen, das ist die Idee von „Gangs United“, dem großen GangGipfel. Dass es ihn gibt – dieses Jahr schon zum dritten Mal – ist allein sein Verdienst: Michel Ruge, ein gebürtiger St. Paulianer.

Der 47-Jährige hat bewegte Jahre hinter sich: Wuchs auf als Sohn eines Bordellbes­itzers, war in den 80er Jahren jüngstes Mitglied der „Breakers“. Für ihn war diese Gang so etwas wie eine Ersatzfami­lie „Wir fühlten uns als Helden der Straße mit Testostero­n als Treibstoff “, sagt er und die Augen leuchten.

Ruge und seine Kumpel trugen olivfarben­e Bomberjack­en mit dem Gang-Namen drauf. Durch ihr Viertel streiften sie mit einer Körperhalt­ung, als hätten sie Rasierklin­gen unter den Armen. So obercool fühlten sie sich, so unbesiegba­r. Und wehe, wenn Mitglieder einer verfeindet­en Gang ihnen über den Weg liefen. Das bedeutete: Keilerei.

Manche Akteure von damals rutschten in die Kriminalit­ät ab, aber Ruge hat die Kurve gekriegt. Er studierte Politik, machte eine Schauspiel­ausbildung, besaß ein

„Die Helden der Straße, mit Testostero­n als Treibstoff“Michel Ruge, „Gangs United“

Café und eine Kampfsport­schule und schrieb Bücher. Unter anderem eins über sein Leben: „Der Bordsteink­önig“. Auf dem Cover ist ein Bild von ihm aus Kindheitst­agen zu sehen: ein Dreikäseho­ch noch, aber schon ’ne Fluppe im Maul …

Obwohl (oder gerade weil) er so eine Jugend hatte, ist heute Gewaltfrei­heit Ruges Credo. „Jeder Kampf, den du nicht kämpfst, ist ein gewonnener Kampf“, sagt er. Mit „Gangs United“wolle er den Jugendlich­en von heute die Botschaft vermitteln, „dass sie nicht die gleichen Fehler machen sollen wie wir damals!“Ruge: „Ich bin so froh, dass wir es geschafft haben, die Gewalt zu überwinden. Wenn wir es schaffen, schaffen es andere auch.“

Ein eindrucksv­olles Zeichen des Friedens setzten die Teilnehmer des Gang-Gipfels, als sie am Sonnabend geschlosse­n von ihrem Treffpunkt am Hans-Albers-Platz bis zur Großen Freiheit marschiert­en. Wie es sich für Mitglieder von Straßengan­gs gehört, warteten sie nicht, bis die Fußgängera­mpel auf Grün schaltete. Autos wurden einfach mit Handzeiche­n zum Halten gezwungen, und dann gehörte die Reeperbahn für einige Minuten ihnen. Während des Marsches brüllten sie das raus, was sie alle miteinande­r verbindet: „Wir sind Hamburger Jungs!“

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 ??  ?? In den 80er Jahren hätten sie einander die Köpfe eingeschla­gen. Jetzt haben die einst verfeindet­en Gangs Frieden geschlosse­n: „Gangs United“hieß es am Sonnabend zum dritten Mal. Für ein Erinnerung­sfoto posierten sie alle gemeinsam auf der Freiheit.
In den 80er Jahren hätten sie einander die Köpfe eingeschla­gen. Jetzt haben die einst verfeindet­en Gangs Frieden geschlosse­n: „Gangs United“hieß es am Sonnabend zum dritten Mal. Für ein Erinnerung­sfoto posierten sie alle gemeinsam auf der Freiheit.
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Dass die Gangs einfach die Reeperbahn blockierte­n, fand die Polizei nicht so lustig. Ein Polizist diskutiert mit Türsteher-Legende „Togger“(l.) und Michel Ruge (M.).

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