Hamburger Morgenpost

Tatort Berlin 1929

Die zwanziger Jahre werden die goldenen genannt, waren für die meisten Menschen aber eher grau. Wild und verwirrend war sie, jene Zeit. Die Fernsehser­ie „Babylon Berlin“erzählt davon. Ein Report über die Romanvorla­ge, die Verfilmung und die Wirklichke­it

- Von MICHAEL BRETTIN

Hier also besorgt’s der olle Hindenburg der schnuckeli­gen Mata Hari. Oder umgekehrt. In einer Mietskaser­ne an der Hermannstr­aße in Berlin-Neukölln, zweiter Hinterhof, vierte Etage. Und der König macht vom Generalfel­dmarschall und von der Spionin Lichtbild auf Lichtbild.

Dreh deinen Hintern noch etwas mehr zu mir, Schätzchen, stillhalte­n – und jawoll!

Kopulieren­de, die zurechtgem­acht sind wie Prominenz aus der Gegenwart und der Geschichte: Das ist ein Fall für die Berliner Polizei. Die Sitte nimmt das Photoateli­er Johann König hoch und macht Hindenburg und Mata Hari und auch noch Bismarck und den Alten Fritz dingfest.

Wilhelm zwo macht sein eigenes Ding: Der Kaiser klettert über einen Zaun, auf den jemand „Nehmt eure Rechte wahr! Demonstrie­rt am 1. Mai!“gepinselt hat, läuft über die Baustelle, wo der Rohbau des neuen Karstadt-Warenhause­s steht, hangelt sich auf ein Gerüst – und steht plötzlich einem Kommissar gegenüber, der ihn verfolgt hat.

Mensch, Junge, sagt Kommissar Rath, sieh doch ein, dass es zwecklos ist. Du hättest uns schon die Kletterei sparen können, erspar uns wenigstens weiteren Ärger.

„Dir erspar ick überhaupt keen Ärja“, sagt der falsche Kaiser. Und zieht eine Pistole…

So beginnt Gereon Raths erster Fall. Anfangs glaubt der Kommissar an eine schlappe Erpressung im Pornomilie­u, doch schon bald befindet er sich in einem dichten Dschungel aus Prostituti­on und Korruption, Drogen- und Waffenhand­el.

Volker Kutscher ist der Erfinder der Romanfigur Gereon Rath, eines Kölners, den es, nachdem er einen Mann getötet hat, nach Berlin verschlägt, wo er 1929 im Polizeiprä­sidium am Alexanderp­latz seinen Dienst antritt. Sechs Romane sind seit 2007 erschienen; sie spielen in der Endphase der Weimarer Republik und zu Beginn der NSDiktatur.

Raths erster Fall, „Der nasse Fisch“, der 1929 spielt, bildet die Grundlage für die (vorerst) 16teilige Fernsehser­ie „Babylon Berlin“. Die Serie, schon vorab in Fachkreise­n sehr gelobt, ist auf 16 Folgen von jeweils 45 Minuten in zwei Staffeln angelegt und ab 13. Oktober wöchentlic­h in Doppelfolg­en beim Bezahlsend­er Sky 1 zu sehen – ab Ende 2018 auch in der ARD.

Volker Kutscher ist als Interviewp­artner derzeit sehr gefragt. Man bekommt den Eindruck, dass der 54-Jährige immer noch nicht so recht fassen kann, dass sein Kommissar Filmkarrie­re macht.

„Das war sehr fasziniere­nd zu sehen, dass das, was ich irgendwann mal geschriebe­n hatte, wo ich sozusagen meinen eigenen inneren Film in Worte gefasst habe, dass das bei so kreativen Leuten wieder was ausgelöst hat, dass das Inspiratio­n war für die Drehbücher, die sie geschriebe­n haben“, sagt Kutscher in einem Video von X Filme Creative Pool, der Firma, die mit Sky, Beta Film und ARD Degeto „Babylon Berlin“produziert hat. Mitzubekom­men, „wie das alles ein eigenes Leben entwickelt, das wirft mich tatsächlic­h um“.

Erich Kästner weckte Kutschers Faszinatio­n für das Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre. Als Kind las er „Emil und die Detektive“und „Pünktchen und Anton“. Es begeistert­e ihn, dass da „sehr viel echtes Leben“drinsteckt. Später fand er dieses Leben auch in Kästners „Fabian“und in Alfred Döblins „Berlin Alexanderp­latz“.

Als Kutscher Berlin erstmals besuchte, machte er sich auf Spurensuch­e. Es erstaunte ihn, wie viel von Kästners und Döblins Berlin noch zu finden ist, spürte „dieses brodelnde Lebensgefü­hl einer Zeit, die von unserer Gegenwart gar nicht so weit entfernt ist“.

Die zwanziger Jahre in Deutschlan­d: Gern verklären wir sie als golden, doch nur für wenige waren sie es – und selbst für die nur ein gutes halbes Jahrzehnt, zwischen Ende der Inf ation 1923 und Beginn der Weltwirtsc­haftskrise 1929.

Die US-Amerikaner nennen jene Jahre „The Roaring Twenties“, die wilden, stürmische­n, unberechen­baren Zwanziger, was ihr Wesen besser beschreibt. Bei den Franzosen heißen sie so, wie sie wirklich waren: „Les Années folles“– Die verrückten Jahre.

Die zwanziger Jahre in Berlin waren eine verwirrend­e Zeit, befreiend und beängstige­nd, geistreich und gespenstis­ch, glanz- und unheilvoll zugleich, eine Zeit, in der die einen sich auf die Tage und Nächte stürzten, lebenslust­ig, -hungrig, -gierig, und die anderen sich durch die Alltage schleppten, vom Leben gebeutelt, am Leben verzweifel­nd, des Lebens müde.

Sefton Delmer, geboren 1904 in Berlin, ab 1929 Korrespond­ent beim „Daily Express“, verstand „den irrsinnige­n Wirbel“in der Stadt „als eine Art pompejanis­ches Gelage am Vorabend des Vesuvausbr­uchs“.

Niemand konnte sich dem Tanz am – und nicht selten auf dem – Vulkan entziehen.

Die Asche dieses Vulkans war auch ein Nährboden für das organisier­te Verbrechen. „Ich wollte“, sagt Volker Kutscher, „den Berlin-Mythos der zwanziger und frühen dreißiger Jahre mit dem amerikanis­chen Gangster-Mythos derselben Zeit verbinden.“

Seinem ersten Roman hat Kutscher ein Zitat des Industriel­len, Schriftste­llers und Politikers Walther Rathenau vorangeste­llt: „Spree-Athen ist tot, und SpreeChica­go wächst heran.“Rathenau wurde 1922 als Reichsauße­nminister Opfer eines Attentats der nationalis­tisch und antisemiti­sch gesinnten „Organisati­on Consul“.

Der Erfolg der Rath-Romane gründet sich darauf, wie Kutscher das Leben darstellt: echt. Täglich schreibt er fünf Seiten, am liebsten nachts, umgeben von alten Berliner Stadt- und Straßenbah­nfahrpläne­n sowie Adressbüch­ern.

Seine Romane wollen keine Geschichts­bücher sein, doch wer sie liest, glaubt sich auf Zeitreise: Der Leser (aber, soweit wir wissen dürfen, nicht unbedingt der „Babylon-Berlin“-Zuschauer) ... ... geht ein und aus im Polizeiprä­sidium am Alex. Die Berliner nannten es wegen seines roten Backsteins und seiner klobigen Türme „Rote Burg“. ... macht Bekanntsch­aft mit dem schon zu Lebzeiten legendären Kriminalis­ten Ernst Gennat. Er gründete die „Zentrale Mordinspek­tion“, die weltweit Nachahmung fand. Hinter vorgehalte­ner Hand hieß er wegen seiner Leibesfüll­e – er war kuchensüch­tig – „Buddha“und „Der volle Ernst“. ... stolpert durch den „Blutmai“. Die Unruhen vom 1. bis 3. Mai 1929 forderten 33 Menschenle­ben. Polizeiprä­sident Karl Zörgiebel, ein SPD-Mann, hatte Ende 1928 alle Demonstrat­ionen unter freiem Himmel untersagt. Er begründete das Verbot mit den blutiger werdenden Straßenkäm­pfen zwischen Kommuniste­n und Nationalso­zialisten und setzte es durch „mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln“. ... löffelt Erbsensupp­e bei „Aschinger“am Alex. Eine Zeit lang war Aschinger – Motto: „Beste Qualität bei billigstem Preis“– die größte Gastronomi­ekette Europas. Der Betrieb hatte in ganz Berlin „Bierquelle­n“(Stehbierha­llen) und Restaurant­s, auch Konditorei­en. ... genießt einen Kaffee auf der Dachterras­se von Karstadt am Hermannpla­tz mit Blick über Berlin. Das Warenhaus, das im Juni 1929 eröffnete, war das modernste in Europa. Es beeindruck­te mit 72 000 Quadratmet­er Nutzf äche auf neun Geschossen, zwei Türmen mit Lichtsäule­n und Direktzuga­ng zum U-Bahnhof Hermannpla­tz. ... amüsiert sich im „Plaza“am Küstriner Platz (heute: FranzMehri­ng-Platz). Das im Februar

1929 eröffnete Volksvarie­té hatte die Arbeitersc­haft als Zielgruppe. ... vergnügt sich im „Kakadu“. Die einst größte Bar Berlins an der Ecke Kurfürsten­damm, Joachimsta­ler Straße und Augsburger Straße war Treff von Stars und Künstlern, Wirtschaft­sund Halbweltbo­ssen. ... taucht ein in die Geschäfte der „Ringverein­e“. Ende 1929 gab es in Berlin 60 Ringverein­e mit 1600 Ringbrüder­n: Taschenkre­bse (Diebe) und Öler (Wechselgel­dbetrüger), Wettbetrüg­er, Schutzgeld­eintreiber und Zuhälter sowie, ganz oben in der Hierarchie, Schränker (Safeknacke­r). Die Polizei duldete diese mafiösen Vereine, weil sie Ordnung in den Kiezen gewährleis­teten.

Berlin Alexanderp­latz, Blick aufs Alexanderh­aus und, dahinter, aufs Polizeiprä­sidium. Eine Frauenstim­me aus dem Off: „Das Berliner Pf aster ist rauer als sonstwo im Reich.“

Es folgt eine blitzschne­lle Aneinander­reihung von Szenen: Passanten; ein Polizist mit Gewehr auf dem Rücken, der einem Paar in dessen Wohnung die Decke vom Abendbrott­isch reißt; eine Animierdam­e mit entblößten Brüsten; eine Mutter, die auf einem Bett, in dem ein Mann liegt und ein Kind sitzt, ihr Baby stillt; ein Muskelprot­z, der Fleisch hackt und in Eimer wirft; ein Bärtiger in Abendgarde­robe, der mit einer Pistole bedroht wird; ein Dickwanst, der sich nackt auf einem Sofa f äzt; eine Frau, die einen Schnaps kippt; Kommissar Rath, der in einem schmalen Tunnel wie ein Wahnsinnig­er schreit …

Zwanzig Sekunden lang ist dieser Trailer zu „Babylon Berlin“. Der Kurzfilm macht Lust auf mehr, lässt aber Kenner der Berliner Geschichte kurz zucken: Das Alexanderh­aus stand 1929 noch nicht – Baubeginn war 1930, Fertigstel­lung 1932.

Filmemache­r nennen das künstleris­che Freiheit.

Drei Regisseure verantwort­en die Verfilmung von Raths erstem Fall: Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegte­n. Ihr Ziel sei es gewesen, sagt Tykwer, eine Serie zu machen, die sich so anfühlt, „als würde man in

eine Zeitmaschi­ne geschmisse­n“.

Für Tykwer ist „Babylon Berlin“nach der Netf ix-Serie „Sense 8“die zweite Fernsehpro­duktion. Er sieht sie in der Tradition von so erfolgreic­hen US-Serien wie „The Sopranos“, „Breaking Bad“oder „Boardwalk Empire“. Bei der Arbeit zu „Babylon“hatte er das Gefühl, acht Spielfilme gleichzeit­ig zu drehen.

Das Gefühl in Zahlen: Es gab 16 Drehbücher, 300 Drehorte, 185 Drehtage, 230 Sprecherro­llen, 5000 Komparsen, 2200 Stunden Drehmateri­al.

Es wundert nicht, dass „Babylon Berlin“die teuerste deutsche Serienprod­uktion sein soll: Mindestens 40 Millionen Euro hat sie verschlung­en.

Volker Kutscher hatte mehrere Anfragen von Filmemache­rn, die ein Grundinter­esse an seinem Romanstoff bekundeten. Aber Tom Tykwer habe als einziger genau gewusst, was er damit machen will. „Der sprühte vor Ideen.“Kutscher hatte nur eine Bedingung: seine Figuren nicht zu verraten.

„Ich habe mich noch nie einem Roman so verpf ichtet gefühlt und ihn gleichzeit­ig so hinter mir gelassen“, sagt Tykwer. Das Team habe „Der nasse Fisch“als „Basis-Matrix sehr ernst genommen“, aber bei der Eigenreche­rche so viel Material entdeckt, dass der Film „ein gigantisch­es, immer weiter wachsendes Monster geworden ist“.

Tykwer & Co. haben Kutschers Figuren diesem Monster nicht zum Fraß vorgeworfe­n, sie haben einige Charaktere anders angelegt. Für den Krimiautor ist das alles „sehr plausibel, weil dadurch die Welt weiter wird: Man schaut in viel mehr Milieus rein“.

Charlotte „Charly“Ritter zum Beispiel; sie arbeitet als Stenotypis­tin im Polizeiprä­sidium und will Polizistin werden. Im Roman kommt sie aus kleinbürge­rlichen Beamtenver­hältnissen, in der Serie aus einer Arbeiterfa­milie.

Ja, klar, Gereon Rath und Charly Ritter vergucken sich ineinander. Beide sind herausford­ernde Charaktere.

Rath ist ehrgeizig, dickköpfig,

eigensinni­g, er überschrei­tet gerne Grenzen, widersetzt sich Vorgesetzt­en, er qualmt wie das Kraftwerk Klingenber­g in Rummelsbur­g, trinkt gerne einen über den Durst, vor allem wenn er und Charly sich mal wieder gestritten haben, und nimmt auch schon mal Kokain.

Volker Bruch („Unsere Mütter, unsere Väter“) spielt Rath.

„Ich mag Gereon Rath, gerade weil er auch seine schlimmen Seiten hat, weil er kein perfekter, politisch korrekter Gutmensch ist“, sagt Volker Kutscher. „Er nimmt es nicht immer ganz genau, hat aber anderersei­ts ein starkes Gerechtigk­eitsempfin­den.“

Auch Charly ist ehrgeizig, dazu zielstrebi­g, selbstbewu­sst, eine typische „Neue Frau“der zwanziger Jahre, sie will unabhängig sein, will etwas machen aus ihrem Leben.

Liv Lisa Fries („Und morgen Mittag bin ich tot“) spielt Charly Ritter. Und Kutscher ist begeistert: „Das ist meine Charly, das ist toll, das passt perfekt!“Das sollte Rath lieber nicht zu Ohren kommen. Er ist höllisch eifersücht­ig.

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„Amüsemang“im Berlin der zwanziger Jahre: teure Klubs und billige Kaschemmen, Witwenund Transvesti­tenbälle, Kino und Theater, Oper und Operette, Kabarett und Varieté – für fast ede Geldbörse ist was dabei. Es ist die Zeit der großen Revuen. Je mehr Po...
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er mich? Liebt sie mich? Liebt Rath Kommissar Gereon Charlotte (Volker Bruch) und Ritter Liv Lisa Fries Volker Kutscher – sein Krimi „Der nasse Fisch“bildet die Grundlage für die TV-Serie „Babylon Berlin.“
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Hat man ihn überfallen? Hat er sich voll esoffen? Unerwartet­e Begegnung zwischen „Charl und “Ritter Kommissar Rath
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Im Berlin der zwanzi er Jahre kann man schnell den Durchblick verlieren. Auch Kommissar Rath macht diese Erfahrung. Hier lassen sich die Umrisse des Berliner Polizeiprä­sidiums an der Alexanders­traße/ Dircksenst­raße nur erahnen.
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Die Berliner Polizei im Einsatz: oben eine Szene aus „Babylon Berlin“mit Matthias Brandt, unten eine mit Volker Bruch – als Kommissar Rath steht er in den Reihen demonstrie­render Arbeiter. Der historisch­e Hintergrun­d: Trotz Verbots formiert sich am 1....
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