Tatort Berlin 1929
Die zwanziger Jahre werden die goldenen genannt, waren für die meisten Menschen aber eher grau. Wild und verwirrend war sie, jene Zeit. Die Fernsehserie „Babylon Berlin“erzählt davon. Ein Report über die Romanvorlage, die Verfilmung und die Wirklichkeit
Hier also besorgt’s der olle Hindenburg der schnuckeligen Mata Hari. Oder umgekehrt. In einer Mietskaserne an der Hermannstraße in Berlin-Neukölln, zweiter Hinterhof, vierte Etage. Und der König macht vom Generalfeldmarschall und von der Spionin Lichtbild auf Lichtbild.
Dreh deinen Hintern noch etwas mehr zu mir, Schätzchen, stillhalten – und jawoll!
Kopulierende, die zurechtgemacht sind wie Prominenz aus der Gegenwart und der Geschichte: Das ist ein Fall für die Berliner Polizei. Die Sitte nimmt das Photoatelier Johann König hoch und macht Hindenburg und Mata Hari und auch noch Bismarck und den Alten Fritz dingfest.
Wilhelm zwo macht sein eigenes Ding: Der Kaiser klettert über einen Zaun, auf den jemand „Nehmt eure Rechte wahr! Demonstriert am 1. Mai!“gepinselt hat, läuft über die Baustelle, wo der Rohbau des neuen Karstadt-Warenhauses steht, hangelt sich auf ein Gerüst – und steht plötzlich einem Kommissar gegenüber, der ihn verfolgt hat.
Mensch, Junge, sagt Kommissar Rath, sieh doch ein, dass es zwecklos ist. Du hättest uns schon die Kletterei sparen können, erspar uns wenigstens weiteren Ärger.
„Dir erspar ick überhaupt keen Ärja“, sagt der falsche Kaiser. Und zieht eine Pistole…
So beginnt Gereon Raths erster Fall. Anfangs glaubt der Kommissar an eine schlappe Erpressung im Pornomilieu, doch schon bald befindet er sich in einem dichten Dschungel aus Prostitution und Korruption, Drogen- und Waffenhandel.
Volker Kutscher ist der Erfinder der Romanfigur Gereon Rath, eines Kölners, den es, nachdem er einen Mann getötet hat, nach Berlin verschlägt, wo er 1929 im Polizeipräsidium am Alexanderplatz seinen Dienst antritt. Sechs Romane sind seit 2007 erschienen; sie spielen in der Endphase der Weimarer Republik und zu Beginn der NSDiktatur.
Raths erster Fall, „Der nasse Fisch“, der 1929 spielt, bildet die Grundlage für die (vorerst) 16teilige Fernsehserie „Babylon Berlin“. Die Serie, schon vorab in Fachkreisen sehr gelobt, ist auf 16 Folgen von jeweils 45 Minuten in zwei Staffeln angelegt und ab 13. Oktober wöchentlich in Doppelfolgen beim Bezahlsender Sky 1 zu sehen – ab Ende 2018 auch in der ARD.
Volker Kutscher ist als Interviewpartner derzeit sehr gefragt. Man bekommt den Eindruck, dass der 54-Jährige immer noch nicht so recht fassen kann, dass sein Kommissar Filmkarriere macht.
„Das war sehr faszinierend zu sehen, dass das, was ich irgendwann mal geschrieben hatte, wo ich sozusagen meinen eigenen inneren Film in Worte gefasst habe, dass das bei so kreativen Leuten wieder was ausgelöst hat, dass das Inspiration war für die Drehbücher, die sie geschrieben haben“, sagt Kutscher in einem Video von X Filme Creative Pool, der Firma, die mit Sky, Beta Film und ARD Degeto „Babylon Berlin“produziert hat. Mitzubekommen, „wie das alles ein eigenes Leben entwickelt, das wirft mich tatsächlich um“.
Erich Kästner weckte Kutschers Faszination für das Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre. Als Kind las er „Emil und die Detektive“und „Pünktchen und Anton“. Es begeisterte ihn, dass da „sehr viel echtes Leben“drinsteckt. Später fand er dieses Leben auch in Kästners „Fabian“und in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“.
Als Kutscher Berlin erstmals besuchte, machte er sich auf Spurensuche. Es erstaunte ihn, wie viel von Kästners und Döblins Berlin noch zu finden ist, spürte „dieses brodelnde Lebensgefühl einer Zeit, die von unserer Gegenwart gar nicht so weit entfernt ist“.
Die zwanziger Jahre in Deutschland: Gern verklären wir sie als golden, doch nur für wenige waren sie es – und selbst für die nur ein gutes halbes Jahrzehnt, zwischen Ende der Inf ation 1923 und Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929.
Die US-Amerikaner nennen jene Jahre „The Roaring Twenties“, die wilden, stürmischen, unberechenbaren Zwanziger, was ihr Wesen besser beschreibt. Bei den Franzosen heißen sie so, wie sie wirklich waren: „Les Années folles“– Die verrückten Jahre.
Die zwanziger Jahre in Berlin waren eine verwirrende Zeit, befreiend und beängstigend, geistreich und gespenstisch, glanz- und unheilvoll zugleich, eine Zeit, in der die einen sich auf die Tage und Nächte stürzten, lebenslustig, -hungrig, -gierig, und die anderen sich durch die Alltage schleppten, vom Leben gebeutelt, am Leben verzweifelnd, des Lebens müde.
Sefton Delmer, geboren 1904 in Berlin, ab 1929 Korrespondent beim „Daily Express“, verstand „den irrsinnigen Wirbel“in der Stadt „als eine Art pompejanisches Gelage am Vorabend des Vesuvausbruchs“.
Niemand konnte sich dem Tanz am – und nicht selten auf dem – Vulkan entziehen.
Die Asche dieses Vulkans war auch ein Nährboden für das organisierte Verbrechen. „Ich wollte“, sagt Volker Kutscher, „den Berlin-Mythos der zwanziger und frühen dreißiger Jahre mit dem amerikanischen Gangster-Mythos derselben Zeit verbinden.“
Seinem ersten Roman hat Kutscher ein Zitat des Industriellen, Schriftstellers und Politikers Walther Rathenau vorangestellt: „Spree-Athen ist tot, und SpreeChicago wächst heran.“Rathenau wurde 1922 als Reichsaußenminister Opfer eines Attentats der nationalistisch und antisemitisch gesinnten „Organisation Consul“.
Der Erfolg der Rath-Romane gründet sich darauf, wie Kutscher das Leben darstellt: echt. Täglich schreibt er fünf Seiten, am liebsten nachts, umgeben von alten Berliner Stadt- und Straßenbahnfahrplänen sowie Adressbüchern.
Seine Romane wollen keine Geschichtsbücher sein, doch wer sie liest, glaubt sich auf Zeitreise: Der Leser (aber, soweit wir wissen dürfen, nicht unbedingt der „Babylon-Berlin“-Zuschauer) ... ... geht ein und aus im Polizeipräsidium am Alex. Die Berliner nannten es wegen seines roten Backsteins und seiner klobigen Türme „Rote Burg“. ... macht Bekanntschaft mit dem schon zu Lebzeiten legendären Kriminalisten Ernst Gennat. Er gründete die „Zentrale Mordinspektion“, die weltweit Nachahmung fand. Hinter vorgehaltener Hand hieß er wegen seiner Leibesfülle – er war kuchensüchtig – „Buddha“und „Der volle Ernst“. ... stolpert durch den „Blutmai“. Die Unruhen vom 1. bis 3. Mai 1929 forderten 33 Menschenleben. Polizeipräsident Karl Zörgiebel, ein SPD-Mann, hatte Ende 1928 alle Demonstrationen unter freiem Himmel untersagt. Er begründete das Verbot mit den blutiger werdenden Straßenkämpfen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten und setzte es durch „mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln“. ... löffelt Erbsensuppe bei „Aschinger“am Alex. Eine Zeit lang war Aschinger – Motto: „Beste Qualität bei billigstem Preis“– die größte Gastronomiekette Europas. Der Betrieb hatte in ganz Berlin „Bierquellen“(Stehbierhallen) und Restaurants, auch Konditoreien. ... genießt einen Kaffee auf der Dachterrasse von Karstadt am Hermannplatz mit Blick über Berlin. Das Warenhaus, das im Juni 1929 eröffnete, war das modernste in Europa. Es beeindruckte mit 72 000 Quadratmeter Nutzf äche auf neun Geschossen, zwei Türmen mit Lichtsäulen und Direktzugang zum U-Bahnhof Hermannplatz. ... amüsiert sich im „Plaza“am Küstriner Platz (heute: FranzMehring-Platz). Das im Februar
1929 eröffnete Volksvarieté hatte die Arbeiterschaft als Zielgruppe. ... vergnügt sich im „Kakadu“. Die einst größte Bar Berlins an der Ecke Kurfürstendamm, Joachimstaler Straße und Augsburger Straße war Treff von Stars und Künstlern, Wirtschaftsund Halbweltbossen. ... taucht ein in die Geschäfte der „Ringvereine“. Ende 1929 gab es in Berlin 60 Ringvereine mit 1600 Ringbrüdern: Taschenkrebse (Diebe) und Öler (Wechselgeldbetrüger), Wettbetrüger, Schutzgeldeintreiber und Zuhälter sowie, ganz oben in der Hierarchie, Schränker (Safeknacker). Die Polizei duldete diese mafiösen Vereine, weil sie Ordnung in den Kiezen gewährleisteten.
Berlin Alexanderplatz, Blick aufs Alexanderhaus und, dahinter, aufs Polizeipräsidium. Eine Frauenstimme aus dem Off: „Das Berliner Pf aster ist rauer als sonstwo im Reich.“
Es folgt eine blitzschnelle Aneinanderreihung von Szenen: Passanten; ein Polizist mit Gewehr auf dem Rücken, der einem Paar in dessen Wohnung die Decke vom Abendbrottisch reißt; eine Animierdame mit entblößten Brüsten; eine Mutter, die auf einem Bett, in dem ein Mann liegt und ein Kind sitzt, ihr Baby stillt; ein Muskelprotz, der Fleisch hackt und in Eimer wirft; ein Bärtiger in Abendgarderobe, der mit einer Pistole bedroht wird; ein Dickwanst, der sich nackt auf einem Sofa f äzt; eine Frau, die einen Schnaps kippt; Kommissar Rath, der in einem schmalen Tunnel wie ein Wahnsinniger schreit …
Zwanzig Sekunden lang ist dieser Trailer zu „Babylon Berlin“. Der Kurzfilm macht Lust auf mehr, lässt aber Kenner der Berliner Geschichte kurz zucken: Das Alexanderhaus stand 1929 noch nicht – Baubeginn war 1930, Fertigstellung 1932.
Filmemacher nennen das künstlerische Freiheit.
Drei Regisseure verantworten die Verfilmung von Raths erstem Fall: Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten. Ihr Ziel sei es gewesen, sagt Tykwer, eine Serie zu machen, die sich so anfühlt, „als würde man in
eine Zeitmaschine geschmissen“.
Für Tykwer ist „Babylon Berlin“nach der Netf ix-Serie „Sense 8“die zweite Fernsehproduktion. Er sieht sie in der Tradition von so erfolgreichen US-Serien wie „The Sopranos“, „Breaking Bad“oder „Boardwalk Empire“. Bei der Arbeit zu „Babylon“hatte er das Gefühl, acht Spielfilme gleichzeitig zu drehen.
Das Gefühl in Zahlen: Es gab 16 Drehbücher, 300 Drehorte, 185 Drehtage, 230 Sprecherrollen, 5000 Komparsen, 2200 Stunden Drehmaterial.
Es wundert nicht, dass „Babylon Berlin“die teuerste deutsche Serienproduktion sein soll: Mindestens 40 Millionen Euro hat sie verschlungen.
Volker Kutscher hatte mehrere Anfragen von Filmemachern, die ein Grundinteresse an seinem Romanstoff bekundeten. Aber Tom Tykwer habe als einziger genau gewusst, was er damit machen will. „Der sprühte vor Ideen.“Kutscher hatte nur eine Bedingung: seine Figuren nicht zu verraten.
„Ich habe mich noch nie einem Roman so verpf ichtet gefühlt und ihn gleichzeitig so hinter mir gelassen“, sagt Tykwer. Das Team habe „Der nasse Fisch“als „Basis-Matrix sehr ernst genommen“, aber bei der Eigenrecherche so viel Material entdeckt, dass der Film „ein gigantisches, immer weiter wachsendes Monster geworden ist“.
Tykwer & Co. haben Kutschers Figuren diesem Monster nicht zum Fraß vorgeworfen, sie haben einige Charaktere anders angelegt. Für den Krimiautor ist das alles „sehr plausibel, weil dadurch die Welt weiter wird: Man schaut in viel mehr Milieus rein“.
Charlotte „Charly“Ritter zum Beispiel; sie arbeitet als Stenotypistin im Polizeipräsidium und will Polizistin werden. Im Roman kommt sie aus kleinbürgerlichen Beamtenverhältnissen, in der Serie aus einer Arbeiterfamilie.
Ja, klar, Gereon Rath und Charly Ritter vergucken sich ineinander. Beide sind herausfordernde Charaktere.
Rath ist ehrgeizig, dickköpfig,
eigensinnig, er überschreitet gerne Grenzen, widersetzt sich Vorgesetzten, er qualmt wie das Kraftwerk Klingenberg in Rummelsburg, trinkt gerne einen über den Durst, vor allem wenn er und Charly sich mal wieder gestritten haben, und nimmt auch schon mal Kokain.
Volker Bruch („Unsere Mütter, unsere Väter“) spielt Rath.
„Ich mag Gereon Rath, gerade weil er auch seine schlimmen Seiten hat, weil er kein perfekter, politisch korrekter Gutmensch ist“, sagt Volker Kutscher. „Er nimmt es nicht immer ganz genau, hat aber andererseits ein starkes Gerechtigkeitsempfinden.“
Auch Charly ist ehrgeizig, dazu zielstrebig, selbstbewusst, eine typische „Neue Frau“der zwanziger Jahre, sie will unabhängig sein, will etwas machen aus ihrem Leben.
Liv Lisa Fries („Und morgen Mittag bin ich tot“) spielt Charly Ritter. Und Kutscher ist begeistert: „Das ist meine Charly, das ist toll, das passt perfekt!“Das sollte Rath lieber nicht zu Ohren kommen. Er ist höllisch eifersüchtig.