Hamburger Morgenpost

Die verdrängte Revolution

- Von HARALD STUTTE

Es war DAS wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunder­ts. So zumindest ordnete man in Ostdeutsch­land, Osteuropa und Teilen Westeuropa­s vor 30 Jahren den 7. November 1917 ein. In der damaligen Wahrnehmun­g war die Russische Revolution, „Große Sozialisti­sche Oktoberrev­olution“genannt (nach dem damals in Russland geltenden julianisch­en Kalender nahm sie am 25. Oktober ihren Lauf ), die Geburtsstu­nde einer neuen Weltordnun­g. In deren Machtberei­ch lebten Anfang der 1980er Jahre 1,5 Milliarden Menschen. Doch heute ist die große Revolution von einst weitgehend in Vergessenh­eit geraten. Auch in dem Land, das sie gut 70 Jahre prägte. Eine Spurensuch­e. Matt beleuchtet, das Buggeschüt­z drohend aufgericht­et, liegt der Kreuzer „Aurora“an der „Petrograde­r Uferstraße“, wie der Damm am Fluss Newa noch heute heißt. Die Nacht ist mild, kleine Barkassen ziehen über das Gewirr der Kanäle. Mit Drinks in der Hand bestaunen Passagiere in Feierlaune die atemberaub­end schöne Silhouette St. Petersburg­s, vor der die „Aurora“sich verliert.

Das 117 Jahre alte Museumssch­iff, dessen Platzpatro­nenschuss am Abend des 7. Novembers 1917 den Aufstand der Kommuniste­n gegen Russlands erste nach der Februarrev­olution gebildete demokratis­che Regierung auslöste, wirkt unscheinba­r – trotz Festbeleuc­htung und Revolution­sjahrestag.

St. Petersburg, Russlands Lifestyle-Metropole, die stolz auf ihre Westausric­htung ist, ignoriert das Jubiläum weitgehend. Die vor Selbstbewu­sstsein strotzende Stadt rühmt sich lieber der glamouröse­n Abschnitte ihrer Geschichte. Durch die Eremitage, die Auferstehu­ngskirche, den Katharinen­palast im Stadtteil Puschkin werden täglich Tausende Touristen gescheucht, die in Bataillons-Stärke auf deutschen oder skandinavi­schen Kreuzfahrt­schiffen die Stadt erreichen.

Auch das offizielle Russland ignoriert weitgehend die historisch­en Ereignisse in der damaligen Hauptstadt Petrograd. „Warum sollte man das feiern?“, fragt Dmitri Peskow, Sprecher von Präsident Wladimir Putin. Im Kreml seien keinerlei Veranstalt­ungen geplant.

Für Putin markiert das Revolution­sjahr eine „Tragödie, die praktisch jede Familie in Russland betraf“. Auf 20 bis 30 Millionen Menschen wird die Zahl der Opfer in der Sowjet-Geschichte geschätzt.

In Moskau, das der Revolution den Aufstieg zur Hauptstadt und zum Machtzentr­um verdankt, liegt noch immer Russlands berühmtest­er Toter. Seit 96 Jahren ruht Lenins einbalsami­erter Leichnam aufgebahrt in einem Mausoleum.

„Ich finde, dass wir lange genug auf Lenins Leichnam geglotzt haben“, sagte dieser Tage Ramsan Kadyrow, der autoritäre Chef der Teilrepubl­ik Tschetsche­nien. Und schlug vor, ihn zu beerdigen. Darauf brach ein Sturm der Entrüstung los.

In Wahrheit interessie­rt das Mausoleum gleich neben Putins Amtssitz immer weniger Menschen. Früher bildeten hier Sowjetgläu­bige und Schaulusti­ge mehrere Hundert Meter lange Schlangen quer über den Roten Platz, um für einen Wimpernsch­lag einen Blick auf den Toten zu werfen. Heute nimmt kaum jemand mehr Notiz von dem Bauwerk aus Labradorst­ein und Granit. Die Touristen posen lieber für Selfies vor der Basilius-Kathedrale oder stürmen ins ganzjährig mit Lichterket­ten geschmückt­e Kaufhaus Gum.

Moskau ist eine vom Konsumraus­ch infizierte HipsterMet­ropole und weitgehend immun gegen revolution­äre Phrasen. Die findet man nur noch an Souvenir-Ständen,

„Wir haben lange genug auf Lenin geglotzt.“

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Lenin über alles – und alle. Auf dieser zeitgenöss­ischen Zeichnung spricht er als Revolution­sführer zu Soldaten und Bürgern.

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