Die verdrängte Revolution
Es war DAS wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts. So zumindest ordnete man in Ostdeutschland, Osteuropa und Teilen Westeuropas vor 30 Jahren den 7. November 1917 ein. In der damaligen Wahrnehmung war die Russische Revolution, „Große Sozialistische Oktoberrevolution“genannt (nach dem damals in Russland geltenden julianischen Kalender nahm sie am 25. Oktober ihren Lauf ), die Geburtsstunde einer neuen Weltordnung. In deren Machtbereich lebten Anfang der 1980er Jahre 1,5 Milliarden Menschen. Doch heute ist die große Revolution von einst weitgehend in Vergessenheit geraten. Auch in dem Land, das sie gut 70 Jahre prägte. Eine Spurensuche. Matt beleuchtet, das Buggeschütz drohend aufgerichtet, liegt der Kreuzer „Aurora“an der „Petrograder Uferstraße“, wie der Damm am Fluss Newa noch heute heißt. Die Nacht ist mild, kleine Barkassen ziehen über das Gewirr der Kanäle. Mit Drinks in der Hand bestaunen Passagiere in Feierlaune die atemberaubend schöne Silhouette St. Petersburgs, vor der die „Aurora“sich verliert.
Das 117 Jahre alte Museumsschiff, dessen Platzpatronenschuss am Abend des 7. Novembers 1917 den Aufstand der Kommunisten gegen Russlands erste nach der Februarrevolution gebildete demokratische Regierung auslöste, wirkt unscheinbar – trotz Festbeleuchtung und Revolutionsjahrestag.
St. Petersburg, Russlands Lifestyle-Metropole, die stolz auf ihre Westausrichtung ist, ignoriert das Jubiläum weitgehend. Die vor Selbstbewusstsein strotzende Stadt rühmt sich lieber der glamourösen Abschnitte ihrer Geschichte. Durch die Eremitage, die Auferstehungskirche, den Katharinenpalast im Stadtteil Puschkin werden täglich Tausende Touristen gescheucht, die in Bataillons-Stärke auf deutschen oder skandinavischen Kreuzfahrtschiffen die Stadt erreichen.
Auch das offizielle Russland ignoriert weitgehend die historischen Ereignisse in der damaligen Hauptstadt Petrograd. „Warum sollte man das feiern?“, fragt Dmitri Peskow, Sprecher von Präsident Wladimir Putin. Im Kreml seien keinerlei Veranstaltungen geplant.
Für Putin markiert das Revolutionsjahr eine „Tragödie, die praktisch jede Familie in Russland betraf“. Auf 20 bis 30 Millionen Menschen wird die Zahl der Opfer in der Sowjet-Geschichte geschätzt.
In Moskau, das der Revolution den Aufstieg zur Hauptstadt und zum Machtzentrum verdankt, liegt noch immer Russlands berühmtester Toter. Seit 96 Jahren ruht Lenins einbalsamierter Leichnam aufgebahrt in einem Mausoleum.
„Ich finde, dass wir lange genug auf Lenins Leichnam geglotzt haben“, sagte dieser Tage Ramsan Kadyrow, der autoritäre Chef der Teilrepublik Tschetschenien. Und schlug vor, ihn zu beerdigen. Darauf brach ein Sturm der Entrüstung los.
In Wahrheit interessiert das Mausoleum gleich neben Putins Amtssitz immer weniger Menschen. Früher bildeten hier Sowjetgläubige und Schaulustige mehrere Hundert Meter lange Schlangen quer über den Roten Platz, um für einen Wimpernschlag einen Blick auf den Toten zu werfen. Heute nimmt kaum jemand mehr Notiz von dem Bauwerk aus Labradorstein und Granit. Die Touristen posen lieber für Selfies vor der Basilius-Kathedrale oder stürmen ins ganzjährig mit Lichterketten geschmückte Kaufhaus Gum.
Moskau ist eine vom Konsumrausch infizierte HipsterMetropole und weitgehend immun gegen revolutionäre Phrasen. Die findet man nur noch an Souvenir-Ständen,
„Wir haben lange genug auf Lenin geglotzt.“