Warum die SPD Ja sagen muss
Der MOPO-Standpunkt:
Seit 1988 bin ich SPD-Mitglied. Ich bin das, was man unter einer Kartei-Leiche versteht. Ich zahle noch immer meinen Studenten-Beitrag, beteilige mich an keinerlei Aktivitäten, gehe zu keiner Mitgliederversammlung, kenne meine MitGenossen im Westen Hamburgs nicht. Ja, ich habe bei den letzten Wahlen nicht einmal SPD gewählt. Warum ich nicht längst ausgetreten bin? Weil diese Mitgliedschaft für mich ein stilles Bekenntnis zu 155 Jahren Engagement für Demokratie und soziale Verantwortung dieser Partei ist – egal, wie schlecht sie gerade geführt wird.
Klingt wie gestanztes Blabla, ist für mich als historisch interessierten Menschen aber ein wirklich schwerwiegendes Argument. Denn stets wenn es in Deutschland um das Grundsätzliche ging, war auf die SPD Verlass – ein demokratischer Fels in der Brandung.
Die SPD übernahm Verantwortung, nachdem der wilhelminische Militarismus Deutschland vor 100 Jahren erstmals in die Katastrophe marschieren ließ. Die SPD war „die Hebamme“der ersten deutschen Demokratie im November 1918 – ertrotzt im Kampf gegen reaktionären Hass und ultralinke Sowjet-Fantastereien. Es war die SPD, die sprichwörtlich zerrieben zwischen Nazis und Kommunisten die Weimarer Demokratie 15 Jahre lang am Leben erhielt – mit ständig wechselnden Koalitionen in wirtschaftlich katastrophalen Zeiten, aufgerieben bis zur Selbstaufgabe. Es war die SPD, die als einzige Partei im März 1933 im Reichstag gegen Hitlers Marsch in die Diktatur stimmte und deren Mitglieder anschließend in den Konzentrationslagern verschwanden. Es war die SPD, die in Deutschlands schwerster Stunde Verantwortung übernahm und auf den Trümmern des „tausendjährigen Reiches“1945 die deutsche Demokratie wiederbelebte – und deren Mitglieder im Osten erneut in Lagern verschwanden, während sich CDU und Liberale den Herrschenden als „Blockflöten“andienten.
Zugegeben, der Sprung in die Gegenwart fällt nicht leicht: Die Neuauflage einer Großen Koalition hat mit den demokratischen Sternstunden vergangener Zeiten wenig gemein. Ein Kabinett der ewig gleichen, aber stark gealterten DauerRegenten hat den Sexappeal ausgelatschter Schuhe. Aber worum geht es denn wirklich? Um Politik-Infotainment in Zeiten von „Deutschland sucht die Super-Regierung“? Nein! Eigentlich wollen wir doch alle nur regiert werden. Möglichst skandalfrei, geräuschlos, effizient. Bei all der berechtigten Kritik an Einzelentscheidungen: Das haben uns die letzten Merkel-Regierungen garantiert. Und: Ein Justin Trudeau oder Emmanuel Macron lässt sich nicht per Wünschelrute finden. Sie sind da – oder eben nicht.
Zurück zu „meiner SPD“: Ich verstehe die Bauchschmerzen, die viele Genossen mit einer Neuauflage der GroKo haben. Ich verstehe das Bedürfnis nach einer Pause, nach Ruhe auf der Auswechselbank für eine Spielzeit, weil nach fast 20 Jahren Dauerregierens die „Adduktoren schmerzen“, wie es in der Fußballersprache oft heißt. Aber in Gottes Namen: Wer soll das Land denn regieren, wenn sich nach den Liberalen auch die Sozialdemokraten verweigern – während zwei andere Bundestags-Parteien (AfD und Linke) nicht regierungsfähig sind?
Immer wieder werden von GroKo-Kritikern die schmerzhaften Kompromisse genannt: die Bürgerversicherung. Klar, die hätte ich auch gern gesehen. Das unsinnige Nebeneinander von privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen versteht kein Mensch. Aber auch das ist wahr: Wir haben in der Bundesrepublik seit 70 Jahren keine Bürgerversicherung – warum soll sie plötzlich so unverzichtbar sein? Und ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Thema im Wahlkampf eine zentrale Rolle gespielt hat.
Ich war stolz auf „meine SPD“, dass sie den Irrweg, den Martin Schulz am Wahlabend leichtfertig beschritten hat, jüngst korrigiert und sich entschlossen hatte, am Ende doch Verantwortung übernehmen zu wollen. Mit Schmerzen, ohne Begeisterung, in einem verzweifelten Akt als „Dienst am Vaterland“. Und ich hoffe, möglichst viele Genossen beschäftigen sich vor ihrer Entscheidung einen Moment lang mit der stolzen Geschichte ihrer Partei.
Eine solche Vergangenheit kostet
Substanz, ständig „Brandung sein“produziert Narben, davon wird man nicht attraktiver. Die Kritiker werden natürlich sagen: Es geht den Sozen nur um Posten. Sie werden mal wieder skandieren: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten …“Lasst sie reden! Und gestaltet – das wird am Ende auch belohnt. Falls die SPD dieses Wagnis aber scheut, droht ihr bei Neuwahlen der Untergang. Außerdem verliert sie ihr „Copyright“– als Bewegung, die stets bereit war, auch in schwierigen Zeiten Verantwortung zu übernehmen. Und wir haben nur eine Partei, die das ohne Einschränkung von sich sagen kann.
Es geht nicht um PolitikInfotainment in Zeiten von „Deutschland sucht die SuperRegierung“. Harald Stutte