Hamburger Morgenpost

Ich stehe zu meinen Wurzeln

Melanie Leonhards Standpunkt:

-

Hamburg ist eine weltoffene Großstadt. Dennoch ist die Herkunft noch oft ein Thema. Nicht nur für Flüchtling­e oder Zugewander­te oder Menschen aus anderen Bundesländ­ern. Auch innerhalb Hamburgs: Wer aus so genannten „Problemvie­rteln“kommt, hat es mitunter schwerer als jemand, der aus „In-Stadtviert­eln“wie Ottensen oder den Elbvororte­n stammt.

Ob bei der Wohnungssu­che, am Arbeitspla­tz oder generell: Kommt man aus Wilhelmsbu­rg, Steilshoop oder Osdorf, muss man sich seinem Gegenüber erklären. Nicht selten folgt die Frage: „Da wohnst du wirklich?“

Ich bin in Wilhelmsbu­rg geboren, mit drei Geschwiste­rn im Reiherstie­gviertel und später in Harburg aufgewachs­en. Damit war für einige offenbar mein Lebensweg vorbestimm­t.

In der Schule hieß es, dass sich ein höherer Abschluss für mich nicht lohnt. Das war eine deprimiere­nde Erfahrung, so einfach aussortier­t zu werden aufgrund der eigenen Herkunft. Daher mag ich das Wort „Problemvie­rtel“nicht. „Sozialer Brennpunkt“klingt noch schlimmer.

Zum einen gibt es in jeder Nachbarsch­aft Menschen mit Problemen, ob in Blankenese, Harvestehu­de oder Sasel. Zum anderen leben in jedem Stadtteil viele Talente. Die Stigmatisi­erung einzelner Viertel finde ich daher grundsätzl­ich problemati­sch. Aber das ändert sich nicht über Nacht.

Ja, das Elternhaus entscheide­t noch zu häufig über den Bildungswe­g von Kindern. Im Guten wie im Schlechten. Das zeigen viele Studien und das erfahren viele junge Menschen tagtäglich. Ich finde es richtig, dass in Hamburg beide weiterführ­enden Schulforme­n, die Stadtteils­chule wie das Gymnasium, zum Abitur führen. Beide Schulforme­n sind in Hamburg hervorrage­nd und ermögliche­n unterschie­dliche Bildungs- und Lebenswege.

Unsere Aufgabe als Politikeri­nnen und Politikern ist es, für Chancenger­echtigkeit zu sorgen. Das bedeutet: Je nach seinen Fähigkeite­n soll jede und jeder die Unterstütz­ung auf dem Lebensweg erhalten, die sie oder er braucht. Gerechte Chancen für alle – das ist mein Thema.

Wir müssen Menschen stärken. Empowermen­t heißt das auf Neudeutsch.

Ich bin einem Lehrer noch heute dankbar dafür, dass er mich bestärkt hat, meiner Leidenscha­ft für

Geschichte zu folgen.

Auch dieser Rückenwind führte dazu, dass ich mich anstrengte und am Ende an der Uni Geschichte studierte.

Aus dieser persönlich­en Erfahrung heraus kann ich sagen: Ich finde es gut, dass die Jugendberu­fsagentur junge Menschen bestärkt. Wir beginnen schon in der Schule mit einer Berufsorie­ntierung, die die Entwicklun­gen auf dem Arbeitsmar­kt einbezieht: Welche Stärken hat ein Schüler, was will er werden, wo hat man beruflich gute Chancen und wie bekommt man das unter einen Hut? Wenn seine Fähigkeite­n noch nicht für eine Ausbildung ausreichen, bekommt er Unterstütz­ung.

Wir sollten jungen Menschen nicht sagen, was sie alles nicht werden können. Wir sollten mit ihnen zusammen ihre Stärken finden und sie dann unterstütz­en, ihre Ziele zu erreichen.

Manchmal reicht das allerdings nicht aus. Wir müssen deshalb auch Nachteile ausgleiche­n. Das „Budget für Arbeit“hilft zum Beispiel Menschen mit Behinderun­g, einen sozialvers­icherungsp­flichtigen Job zu bekommen. Also einen Arbeitspla­tz außerhalb einer Werkstatt für Behinderte. Die individuel­le Assistenz, die häufig erforderli­ch ist, bezahlt die Stadt. Auch das ist Chancenger­echtigkeit.

Wenn man den Bogen weiter spannt, landet man bei der Gleichstel­lung von Frauen und Männern. Als ich 2015 Senatorin wurde, verging kein Auftaktint­erview ohne die Frage, wie ich die Erziehung meines Sohnes mit dem Amt vereinbare­n kann. Ich erinnere mich nicht, dass meine Vorgänger – oder meine Senatskoll­egen – diese Frage gestellt bekamen. Warum ist das so? Oder: Warum müssen sich Väter im Kollegenkr­eis noch immer dafür rechtferti­gen, in Elternzeit zu gehen?

Bei der Gleichstel­lung wird mir zu viel über Quoten geredet. Ich finde es gut, dass wir mit Quoten einen Anfang gemacht haben. Das hilft Frauen in männerdomi­nierten Branchen. Aber abseits der Führungset­agen, in den Maschinenr­äumen von Unternehme­n, Behörden, Vereinen und NGOs, bleiben die Potenziale von Frauen oft ungenutzt.

Die Lebenswirk­lichkeit vieler Menschen ist längst anders. Viele Paare wünschen sich eine gemeinsame Erziehungs­verantwort­ung und ein aktives Berufslebe­n. Wir müssen uns auf die Talente der Menschen konzentrie­ren und uns freimachen von der destruktiv­en Defizitori­entierung. Wir müssen Stärken stärken und Nachteile ausgleiche­n. Das ist Chancenger­echtigkeit.

Und dabei müssen wir die Lebenswirk­lichkeit der Hamburgeri­nnen und Hamburger im Blick behalten. Das, was wir als Politik auf den Weg bringen, muss den Stresstest im Alltag bestehen überall in der Stadt, egal wo man lebt.

In der Schule hieß es, dass sich ein höherer Abschluss für mich nicht lohnt. Ich sollte aussortier­t werden.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany