Hamburger Morgenpost

So sehr nerven uns die Dealer

Der frustriert­e Hilferuf eines St. Paulianers

-

Ich bin im Herbst 2016 nach St. Pauli gezogen, da gab es bereits Dealer in „meiner“Straße, der Balduinstr­aße. Es ist also nicht so, dass ich von der Situation überrascht worden wäre. Lange war ich auch der Meinung, das Ganze gehört zum Straßenbil­d, wie die Damen an der Davidstraß­e. Doch zuletzt wurden die Dealer immer mehr – und aggressive­r. Als Anwohner kann ich nur sagen: Die Situation wird immer nerviger. Und auch die Arbeit der Polizei überzeugt nicht.

Seit Ende vergangene­n Jahres, also parallel zur Anti-Dealer-Offensive der Polizei, hat sich die Situation signifikan­t verändert, um nicht zu sagen: verschärft. Verkauften davor drei bis fünf Dealer Gras (und wohl auch mal andere Drogen), hat sich das Geschäft – und somit die Anzahl der Dealer – seitdem stark erweitert.

Es wird in Gruppen „gearbeitet“. Die Passanten ten werden bereits am An fang der Silber-sackstraße angesproch­en und dann re-gelrecht weitergere­icht. Entspre-chend hat auch die Anzahl der Ver-käufer zugenommen. Waren es an-fangs die bereits erwähnten drei bis fünf Männer, stehen heute von der Silbersack­straße bis zur Balduintre­ppe, je nach No-chentag, locker zehn bis 20 Dea-ler. Das Verhalten dieser Gruppe wird zunehmend aggressive­r, auch ge-genüber Anwohnern. War es vor-her noch eine Art „tolerantes Miteinande­r", werden jetzt auch Anwohner aggressiv angesproch­en oder auch schon mal bepabelt. Die eins-tigen „Stammdeale­r" kannten die An-wohner und ließen uns in Ruhe. Die, die jetzt dazugekomm­en sind, sind aggressive­r. Jetzt wird man auf dem Weg nach Hau-se ständig angequatsc­ht. Herrs Alte vorher eine Art „Konsens", nicht zu dealen, solange ler Schulunter­richt an der Si. Pauli Schule statt-findet, wird heute auch vor-mittags direkt vor der Schule versucht zu verkaufen. Meiner Meinung nach soll-ten auch die Bewohner der Ha-fenstraßen­häuser ihre solida-rische Grundhaltu­ng zu den

Dealern einmal überdenken. Denn damit tolerieren sie auch, dass gegenüber einer Schule Drogen verkauft werden.

Dass sich an der Ecke Silbersack­straße/Balduinstr­aße ein rechtsfrei­er Raum entwickelt hat, scheint auch der Hamburger Polizeifüh­rung aufgefalle­n zu sein. Und sie versucht gegenzuste­uern, wobei die Betonung eher auf „versucht“liegt. Denn es mangelt der Polizei an Konsequenz.

So stehen seit Neuestem zeitweise zwei Fußstreife­n oben an der Balduintre­ppe. Allerdings weder kontinuier­lich noch regelmäßig. Gerade am Wochenende, also zur „Dealer-Hochsaison“, ist oft kein einziger Polizist zu sehen. Als Anwohner bekommt man den Eindruck, dass Polizisten nur dann vor Ort sind, wenn Beamte (oder Dienststun­den) „übrig“sind.

Am Wochenende kommt es lediglich zu den üblichen Streifen per Wagen, ohne dass auch nur ansatzweis­e ausgestieg­en und eingegriff­en wird. Das bedeutet: verkaufsof­fene Sonnabende und Sonntage für die Dealer.

Wenn die Polizei vor Ort ist, etwa an der Balduintre­ppe, vertreibt sie zwar die Dealer, aber sie verlagert das Geschehen damit nur, zum Beispiel in die Erichstraß­e oder Richtung Reeperbahn in die Silbersack­straße. Hier wären dann weitere Fußstreife­n nötig.

Ebenso fehlen flankieren­de Maßnahmen, um den Drogenverk­auf wirklich einzuschrä­nken, beispielsw­eise Kontrollen der Autofahrer in der Bernhard-Nocht-Straße. Denn viele Deals werden als „Drive In“abgewickel­t. Vom Taxifahrer über den Pinneberge­r bis zum ganz normalen Hamburger kommt da ein Querschnit­t der Gesellscha­ft vorgefahre­n – es hat sich schlicht rumgesproc­hen, dass man bei uns Drogen kaufen kann.

Oder die Polizei müsste konsequent Razzien machen. Bislang ist es so: Die Polizei kommt über die Silbersack­straße Richtung Balduinstr­aße und die Dealer flüchten in Richtung Hafenstraß­e – und das war’s. Außer einem „Wir haben was getan“kommt dabei nicht viel heraus. Es müsste einen konzertier­ten Einsatz aus allen Richtungen (Silbersack­straße, Bernhard-NochtStraß­e, Hafenstraß­e) geben.

Solche Aktionen kosten Zeit und Personal. Und ich weiß, dass die Hamburger Polizei einen Berg an Überstunde­n vor sich herschiebt und chronisch überlastet ist. Aber entweder man bekämpft die Dealer richtig – und „richtig“bedeutet: viel Aufwand, viel Personal – oder Senat und Polizeifüh­rung sind ehrlich und gestehen ein: „Wir bekommen mit unseren beschränkt­en Mitteln die Situation nicht (besser) in den Griff.“Alles andere ist am Ende Alibihande­ln nach dem Motto „Wir tun was“. Uns Anwohnern bringt das aber wenig.

Es wird sogar vormittags direkt vor der Schule versucht, Drogen zu verkaufen. Stefan Grüttke

 ??  ?? Der Autor STEFAN GRÜTTKI: (57) lebt auf dem Kiez und ist in der Gastronomi­e tätig.
Der Autor STEFAN GRÜTTKI: (57) lebt auf dem Kiez und ist in der Gastronomi­e tätig.
 ??  ?? Der eine hat die Drogen, der andere bezahlt. Auf St. Pauli werden diese Deals täglich zigfach gemacht.
Der eine hat die Drogen, der andere bezahlt. Auf St. Pauli werden diese Deals täglich zigfach gemacht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany