Hamburger Morgenpost

So betrügt der Staat Hartz-IV-Bedürftige

Statt 571 erhält ein Alleinsteh­ender nur 416 Euro im Monat. Bundesregi­erung spart so jedes Jahr 25 Milliarden Euro ein

- „Verdeckt Arme“: ROH

Berlin - 416 Euro Regelsatz. Und davon soll ein HartzIV-Empfänger leben? Sozialexpe­rten zweifeln schon lange daran, dass dieser Satz richtig berechnet wird. Das haben Recherchen des ARD-Magazins „Monitor“jetzt bestätigt. Durch Rechentric­ks spare der Bund pro Jahr 25 Milliarden Euro.

Der Regelsatz werde systematis­ch herunterge­rechnet, das beklagen auch die Sozialverb­ände schon seit Jahren. Das geschehe durch drei Rechentric­ks:

➤ Untere 15 Prozent: Ursprüngli­ch galten als Grundlage für die Hartz-IV-Sätze die Ausgaben der einkommens­schwächste­n 20 Prozent der Gesellscha­ft. Seit 2011 werden zum Vergleich nur noch die unteren 15 Prozent herangezog­en. Schon die Rückkehr zur alten Methode vor 2011 würde den Regelsatz auf 571 Euro für einen Alleinsteh­enden erhöhen. Allein dieser Effekt erspart dem Staat pro Jahr Ausgaben von rund 10 Milliarden Euro.

➤ Geld für Alkohol/Tabak: Zahlreiche Ausgaben werden nachträgli­ch ganz oder teilweise gestrichen. Dies betrifft vor allem die statistisc­hen Ausgaben für Verkehrsmi­ttel, Gaststätte­nbesuche, Reisen, Tabak oder Alkohol. Nach Ansicht der Bundesregi­erung seien das Ausgaben, die „nicht zum soziokultu­rellen Existenzmi­nimum zählen ...“.

➤ Das Ziel, das Existenzmi­nimum zu errechnen, werde systematis­ch unterlaufe­n, auch weil so genannte „verdeckt Arme“bei den Berechnung­en nicht herausgere­chnet werden. Das sei „methodisch unsauber“, beklagt Irene Becker, Expertin für Verteilung­sforschung, gegenüber „Monitor“. „Verdeckt Arme“sind Menschen, die eigentlich ein Anrecht auf Sozialleis­tungen haben, aber keine beantragen. Das sind gut 40 Prozent aller Menschen, die derartige Ansprüche geltend machen könnten.

Als Ergebnis unterstell­en die Experten wie Jürgen Borschert, ehemals Chef des Landessozi­algerichts Hessen, einen Verstoß gegen die Vorgaben des Bundesverf­assungsger­ichts: Karlsruhe hatte gefordert, dass der Regelsatz auch Hartz-IV-Empfängern „ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellscha­ftlichen, kulturelle­n und politische­n Leben“ermögliche­n muss. Borchert: „Das ist mit den Regelsätze­n, die wir jetzt haben, mit Sicherheit nicht mehr der Fall.“

Sozialexpe­rten wie Prof. Stefan Sell von der Hochschule Koblenz vermuten hinter dem Vorgehen der Bundesregi­erung noch einen anderen Grund: drohende Einbußen bei der Einkommens­teuer. Der Grundfreib­etrag leitet sich nämlich aus dem Hartz-IV-Satz ab. Steigt der Regelsatz, steigt auch der Grundfreib­etrag. In der Folge würden die Einnahmen des Fiskus deutlich sinken – nach „Monitor“-Berechnung­en um 15 Milliarden Euro. Sell hält dies für den zentralen Grund, „warum die Politik eine Anhebung der Hartz-IV-Sätze scheut wie der Teufel das Weihwasser“.

Die Politik scheut eine Anhebung der HartzIV-Sätze wie der Teufel das Weihwasser. Prof. Stefan Sell zu „Monitor“

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