„Eine WM der glänzenden Kulissen“
Friederike Meltendorf und Leonid Klimov übersetzen russische Debatten ins Deutsche
Die Hamburger Vereinigung „dekoder“übersetzt russische Zeitungsbeiträge und Online-Journalismus ins Deutsche. Die MOPO traf Friederike Meltendorf und Leonid Klimov zum WMAuftaktgespräch.
MOPO: Welche Erwartungen herrschen in Russland an die WM? Leonid Klimov: Einerseits allgemeine Begeisterung, andererseits Kritik: Was bedeutet das für die Menschen? Entstehen Potjomkinsche Dörfer, die nach dem Turnier keiner mehr braucht?
Friederike Meltendorf: Eine WM der glänzenden Kulissen wird es auf jeden Fall.
Wie beliebt ist Fußball im Land? Klimov: Während zu Sowjetzeiten Eishockey vorne lag, ist Fußball nun klar die Nummer eins. Als mein Heimatklub Torpedo Wladimir im Pokal gegen ZSKA Moskau angetreten ist, saßen die Leute auf den Bäumen, um das Spiel zu sehen. Als die Sbornaja 2008 das EM-Halbfinale erreicht hat, war ganz St. Petersburg auf der Straße.
Die Fans sind berüchtigt: Bei Turnieren treten russische Hooligans auf, in der Premjer-Liga ist Rassismus an der Tagesordnung.
Klimov: Das Bild lässt sich nicht auf den Hooligan oder den Schalträger reduzieren. Bei einem Spiel in St. Petersburg haben die Zenit-Fans ihre Gesänge mehrfach unterbrochen, damit auch die Fans aus Krasnodar Raum für ihre Anfeuerung hatten. Doch es gibt auch den Spruch: „Zenit hat alle Farben außer Schwarz.“Fans haben lange verhindert, dass St. Petersburg schwarze Spieler verpflichtete.
Unter Putin steht es schlecht um die Bürgerrechte. Wie geht „dekoder“mit der Situation um? Meltendorf: Mit „dekoder“übersetzen wir aktuelle Debatten ins Deutsche. Dabei gucken wir besonders auf die Medien ohne staatliche Verstärkung. Es ist ein Fakt, dass Putin der russische Präsident ist. Aber während der WM sollten wir so wenig wie möglich über Putin reden. Worüber dann? Meltendorf: Über die Menschen, die zum Fußball gehen. Über die Menschen, die sich das nicht leisten können. Und über Menschenrechte: Über Oleg Senzow, der sich seit dem 14. Mai im Hungerstreik befindet. Der ukrainische Regisseur wurde im Zuge des Krim-Konflikts wegen „Terrorismus“zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Kann ein Großereignis wie die Fußball-WM ein Land öffnen? Klimov: Die Winterspiele in Sotschi 2014 haben gezeigt: Nein, eher im Gegenteil. Ein Land zeigt seine Offenheit vielleicht vor und während solcher Ereignisse, aber nicht danach. Kurz nach Sotschi hat Russland den Anschluss der Krim betrieben.
Hätte es also einen Boykott der Fußball-WM geben sollen? Meltendorf: Ein Boykott würde nur den Staatsmedien in die Karten spielen, die dann wieder schreiben: Der Westen isoliert uns. Schön wäre, wenn viele Besucher erkennen, wie vielschichtig Russland ist. Auf dekoder.org gibt es auch ein Online-Quiz. Wer etwas über Russland wissen will, kann in den nächsten Wochen eine Menge erfahren.
DAS INTERVIEW FÜHRTE FOLKE HAVEKOST