„Intoleranz ließ Hamburg untergehen“
Günter Lucks überlebte 1943 den Feuersturm. Der 89-Jährige ist entsetzt, dass Fanatismus wieder um sich greift
„Operation Gomorrha“, bis heute die schwersten konventionellen Bombenangriffe auf eine zivile Stadt, jährte sich dieser Tage zum 75. Mal. Nach unserer sechsteiligen Serie schreibt heute Günter Lucks, einer der Überlebenden. Seit damals beschäftigt den 89-jährigen Hamburger die Frage: Warum musste sein damals 15-jähriger Bruder Hermann sterben? Und: Haben wir daraus wirklich etwas gelernt?
Das Bild der Trümmerlandschaft, das Sie oben im Hintergrund sehen, zeigt ein Mietshaus am Nagelsweg 49 in Hammerbrook. Das war einmal unser Wohnhaus. Ich, damals 14, und Hermann, ein Jahr älter, hatten darin tagelang ausgeharrt, während über uns in 7000 Metern Höhe die Lancasterund Halifax-Bomber ihre todbringende Last abwarfen. Unsere Eltern, mein Stiefvater war ein Flugzeugexperte, waren ins tschechische Brünn versetzt worden. Weil ich und mein Bruder in die Lehre gingen beziehungsweise berufstägig waren, lebten wir allein in der elterlichen Wohnung. Großeltern und eine Tante in der Nachbarschaft betreuten uns.
Hermann starb in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli, da wurde Hamburg bereits seit drei Tagen von alliierten Bombenangriffen heimgesucht. Bis dahin waren wir im ehemals „roten Osten“mit seinen dicht besiedelten Arbeiterbezirken Hamm, Hammerbrook, Rothenburgsort weitgehend verschont geblieben. Als unser Haus getroffen wurde, saßen wir zusammen mit anderen im Keller, der eigentlich eine Wäscherei war. Wir hörten über uns ein „Rums“, nicht einmal sehr laut, als wäre da eben ein schwerer Schrank umgefallen. Die Männer und wir Jugendlichen eilten mit unseren „Volksgasmasken“die Treppe hinauf zum Dachstuhl. Eine Sprengbombe hatte das Dach abgedeckt, kleine Phosphorbomben spien ihren Inhalt aus, entfachten ein Flammenmeer.
Wir versuchten zu löschen, so wie wir es in der Schule gelernt hatten: mit bereitliegenden Feuerpatschen und Sand. Aber es war zwecklos.
Als eine brennende Wand einstürzte und mich traf, riss ich mir Gasmaske herunter und wurde durch die toxischen Gase ohnmächtig. Hermann trug mich nach unten ins Eingangsportal des Treppenhauses, legte mich auf die Steintreppe, wo ich wieder zu mir kam. Dann sagte er, er wolle zu Tante Olga gehen, die ein paar Häuser weiter wohnte, um Hilfe zu holen. Ich hätte ihn zurückhalten sollen – war aber außerstande dazu. Er war der Ältere, zu dem ich stets aufblickte, der immer recht gehabt hatte. Hermann lief hinaus in den Feuersturm, der inzwischen tobte wie im inneren eines Hochofens. Und kam nie zurück. Ich habe „Gomorrha“mit viel Glück überlebt.
Die Bombenangriffe waren kein Naturereignis. Sie waren eine Reaktion auf Hitlers Krieg, auf deutsche Bomben, die zuvor Coventry, Warschau, Rotterdam zerstört hatten. Für mich fing der Untergang Hamburgs bereits zu Beginn der 30er Jahre an, als sich Fanatismus, Extremismus und Hass bis in die Mitte unserer Gesellschaft hineinfraßen. Hamburg war da schon längst keine liberale, weltoffene Hansestadt mehr. Ich habe in der eigenen Familie erlebt – meine Eltern
waren „moskau-gläubige“Kommunisten – wi sich Intoleranz und Dogmatismus ausbreiteten Stadtteile und sogar Familien spalteten. Nachdem sich meine Eltern getrennt hatten, heiratete mei Vater neu – die Frau war glühende Hitler-Anhän gerin. Ein Onkel war Sozialdemokrat, ein Opa ka sertreu. Man stritt, schrie sich an, ging sich au dem Weg. Ich erinnere mich an Straßenkämpf mein Vater wurde von Polizisten angeschossen Als die Nazis 1933 die Macht übernahmen, ging fü mich Hamburg das erste Mal unter. Die Stadt ver lor vollends ihre Vielfalt, ihre Toleranz, ihre Wel offenheit.
Historische Vergleiche sind immer schwierig Doch ich sehe mit Schrecken, wie sich heute Rad kalismus, Intoleranz, ideologischer und religiöse Wahn ausbreiten. Wie sich eine Gesellschaft, de es eigentlich gut geht, polarisiert. Wie in den sozia len Netzwerken Hass verbreitet wird – gegen Pol tiker, gegen Medien, gegen Andersdenkende, An dersaussehende, Andersgläubige. Wie die Mitt unserer Gesellschaft wegbricht, wie unserer De mokratie allmählich die Demokraten davonlaufen