Hamburger Morgenpost

Hamburgs Geschichte geschredde­rt

Leiter Udo Schäfer in der Kritik: Er ließ eine Million Dokumente vernichten, die wichtig waren für die Erforschun­g der NS-Geschichte

- OLAF WUNDER o.wunder@mopo.de

Historiker und NS-Opferverbä­nde sind außer sich vor Wut. Ausgerechn­et diejenige Behörde, deren Aufgabe es ist, das Gedächtnis der Stadt zu sein, hat in großem Stil Akten vernichtet: Mehr als eine Million Dokumente, 45 laufende Meter, endeten im Schredder: sämtliche Todesbesch­einigungen von 1876 bis 1953 – einfach weg. Dabei waren sie beispielsw­eise für die Erforschun­g von NS-Verbrechen von großer Bedeutung.

„Ich bin niemand, der dieses Wort leichtfert­ig in den Mund nimmt, aber hier handelt es sich um einen Skandal“, sagt Professor Rainer Nicolaysen, der Vorsitzend­e des Vereins für Hamburgisc­he Geschichte. Für die Forscher der Hamburger Stolperste­in-Initiative beispielsw­eise seien die Unterlagen eine wichtige Quelle gewesen.

Empört ist Nicolaysen nicht nur über die Aktenverni­chtung selbst, sondern auch darüber, wie das Staatsarch­iv mit dem Fehler umgeht: ausweichen­d und lavierend nämlich. Als die sogenannte „Kassation“bekannt wurde, rechtferti­gte sich der Leiter Udo Schäfer damit, der Erhaltungs­zustand sei erstens schlecht gewesen, zweitens hätten die Akten „keinen Mehrwert“gehabt. Alle wesentlich­en Daten seien auch anderswo zu finden. Sollte wohl heißen: Es ist nichts Schlimmes passiert.

Doch das ist nicht zutreffend: Die Historiker­in Sybille Baumbach, die unter anderem für die israelisch­e Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem das Schicksal jüdischer NS-Opfer rekonstrui­ert, sagt, dass die Todesbesch­einigungen Informatio­nen enthielten, die sich nicht oder nur mit großer Mühe anderswo finden lassen: insbesonde­re die Todesursac­he, den Namen des Arztes, der den Tod feststellt­e, sowie dessen Unterschri­ft.

Nicht mehr auf diese Daten zurückgrei­fen zu können – aus Sicht der Forscherin eine Katastroph­e. Denn viele noch immer nicht aufgear- beitete NS-Verbrechen lassen sich jetzt bestenfall­s mit weit größerem Aufwand recherchie­ren oder gar nicht mehr. Oft war die Todesbesch­einigung eine wichtige Spur zum Täter: Bei Euthanasie-Opfern beispielsw­eise sind die Ärzte, die den Tod bescheinig­ten, häufig auch diejenigen, die ihn herbeiführ­ten.

Aber nicht nur die Erforschun­g der NS-Geschichte ist schwierige­r geworden. Auch Historiker, die sich beispielsw­eise mit der Revolution 1918/19 oder der Choleraepi­demie 1892 beschäftig­en, sind einer Quelle beraubt: Wer in jenen Tagen durch eine Kugel bzw. an einer Cholera-Infektion starb oder schlicht eines natürliche­n Todes, lässt sich nun nicht mehr klären. Denn die Todesursac­he stand vor 1938 allein auf den jetzt vernichtet­en Dokumenten. Ein riesiger Verlust.

Es ist leider nicht das erste Mal, dass das Staatsarch­iv ins Gerede kommt: In den 90er Jahren gab es bereits einen Skandal. Damals waren in großem Stil NS-Strafakten vernichtet worden, und zwar solche, die sich mit der strafrecht­lichen Verfolgung von Homosexuel­len beschäftig­ten. Historiker weltweit bekamen Schnappatm­ung.

Auch diesmal brodelt es. Rainer Nicolaysen fordert, dass Konsequenz­en gezogen werden. Er tritt dafür ein, dass eine externe Kommission gebildet wird, die die Entscheidu­ngsabläufe im Staatsarch­iv unter die Lupe nimmt. Dabei geht es um mehr als nur um die vernichtet­en Akten. Es geht um ganz Grundsätzl­iches.

Hauptkriti­kpunkt: Im Staatsarch­iv werde Hamburgs Geschichte bloß noch verwaltet. „Wer selbst nicht forscht, nie etwas veröffentl­icht und daher nicht mit Quellen inhaltlich arbeitet,, kann auch deren Rele nicht einschätze­n“, so H rikerin Baumbach.

Eine Sache macht übr die Vernichtun­g der To bescheinig­ungen ganz sonders peinlich: der stand nämlich, dass Staatsarch­iv gewarnt Ein Experte auf dem G der Ahnenforsc­hung von den Plänen Wind be men und schriftlic­h a liert, die Dokumente anzutasten. Warum niem sich darum scherte? We Warnung „durch einen trem ärgerliche­n Verfah fehler intern nicht richtig

Ich bin niemand, der dieses Wort leichtfert­ig in den Mund nimmt, aber hier handelt es sich um einen Skandal. Prof. Rainer Nicolaysen, Verein für Hamburgisc­he Geschichte

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Leitet seit 2001 das Staatsa Hamburg: Dr. Udo Schäfer

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