Hamburgs letzter Pirat
Wie Hamburgs letzter Pirat einen gestrandeten Riesen-Frachter enterte
Lüder Griebel (72) ist Chef der Kneipe „Anker “auf der Nordseeinsel Neuwerk. Vor 51 Jahren nahm er an einem Raubzug teil, von dem er seinen Gästen noch heute erzählt
Ein Steuerrad an der Wand des „Ankers“, der Inselkneipe Neuwerks. Seit Jahrzehnten sitzen die Gäste darunter – und die meisten ahnen nicht, dass die maritime Wanddekoration aus einem gestrandeten Schiff stammt – und einst von Hamburgs letztem Piraten „erbeutet“wurde. Der jüngste letzte noch Lebende der damaligen Strandräuber: „Anker“-Wirt Lüder Griebel (72).
Die Nacht zum 4. Dezember 1967, erster Advent. Der griechische Frachter „Emmanuel M.“kämpft sich durch sechs Meter hohe Nordseewellen. Der Kapitän versucht, in dem Sturm Kurs zu halten, aber in dem schwierigen Fahrwasser nahe der Elbmündung hat er keine Chance. Um 5.40 muss die Besatzung einen Notruf absetzen: „Mayday! Frachter ,Emmanuel M.‘, Besatzung 30 Mann, auf einer Sandbank gestrandet. Benötigen dringend Hilfe!“
Die „Emmanuel M.“ist in der tobenden See auf die Sandbank Scharhörn aufgelaufen, in Sichtweite von Hamburgs kleinem Inselvorposten: Neuwerk. Hoch und trocken liegt der Riese im Watt, als Stunden später das Wasser abläuft. Wenig später wird auf Neuwerk zum allerletzten Mal die uralte Tradition der Strandräuberei wiederbelebt.
„Jau, nach ein paar Tagen sind wir rüber“, erzählt Lüder Griebel. Sogar das Fernsehen berichtete damals: Die Nachrichtensendung „Blickpunkt“vom 12. Dezember 1967 begleitete die griechische Besatzung, als die Männer auf das trockengefallene Schiff zurückkehren: „Die Kajüten wurden aufgebrochen, Proviant und Wertgegenstände fehlen, nur zwei Ost-
groschen blieben zurück,“heißt es in dem Beitrag.
Schnell fiel der Verdacht auf die Insulaner, auf wen auch sonst – nur Beweise gab es nicht. „Die Polizei behauptete sogar, sie hätten ein Foto von mir“, sagt Lüder Griebel. Stimmte natürlich nicht. Und so hielten die Neuwerker jahrzehntelang dicht. Erst als der Raubzug längst verjährt war, rückte Lüder Griebel raus mit der Sprache – und betont: „Alles, was man verkaufen konnte, Proviant und 80000 Zigaretten, das war schon weg, als wir kamen.“
Was war geschehen? Tagelang hatten Schlepper versucht, das Schiff von der Sandbank zu ziehen – und waren, so die Vermutung, jeden Abend unverrichteter Dinge, aber voll beladen wieder nach Cuxhaven zurückgefahren. „Die haben den Kram schön verhökert“, erzählt Griebel und lacht.
Die Neuwerker Teilzeit-Piraten fanden trotzdem noch genügend Nützliches. Lüder, der Kleinste, wurde vorgeschickt, an der Ankerkette hoch: „Ich hatte Angst, nicht durchs Bullauge zu passen“, erzählt er und muss wieder lachen.
Mit seinem Vater, der noch in den 60er Jahren von einem Cuxhavener Richter als letzter Neuwerker wegen Piraterie verurteilt wurde, und seinem Nachbarn Hein von Krooge war der damals Anfang 20-Jährige durchs Watt zur „Emmanuel M“geschlichen.
Was immer man irgendwie auf der Insel verwenden konnte, nahmen die Neuwerker Seeräuber mit: Werkzeug, Farbe, Planen. Ach, die Planen. Wenn er daran denkt, bricht Griebel wieder in lautes Gelächter aus. Sein Vater und Krooge, beide nicht mehr die Jüngsten, entwickelten bei der Plünderei ungeahnte Kräfte: „Ein 100 Pfund schweres Lukenpersenning, die Taschen voller Nägel, schleppte Krooge von Bord“, erzählt der Ex-Pirat und läuft mit gekrümmtem Rücken vor dem „Anker“-Tresen auf und ab.
Sogar ein Feriengast, ein Beamter, wollte bei einer der Touren unbedingt mal mit an Bord: „Der zog sich ganz in Weiß an, damit er im Zweifelsfall beweisen konnte, dass er nichts angefasst hat“, erinnert sich der Ankerwirt amüsiert: „Und wo finde ich ihn? Hängt der kopfüber im Backofen, weil er dahinten einen Messingmörser gesehen hatte!“Der Mörser war dann auch weg.
Als Letztes musste das Steuerrad mit, als Trophäe. Nur die Werkbank aus dem Maschinenraum im Schiffsbauch, „die haben wir nicht mehr rausgekriegt“.
Zwei Jahre lag der havarierte leergeräumte Riese auf der Sandbank vor Neuwerk, bis ein holländischer Geschäftsmann das Wrack kaufte und verschrotten ließ.
Lüder Griebel eröffnete wenig später den „Anker“, inzwischen seit Jahrzehnten das heimliche Herz der Insel. Lange kochte der Chef hier selbst, inzwischen unterstützt er Sohn Christian, den jungen „Anker“Chef.
Ab und zu, erzählt der einstige Strandräuber, kommen noch Leute vorbei, die von der alten Geschichte gehört haben und einen Schnack mit „Hamburgs letztem Piraten“halten wollen. „Besonders Kinder sind dann immer ganz fasziniert“, erzählt Lüder Griebel, „die fragen, ob ich echt ein Pirat war. Ich sag dann ,Ach, das war früher. Jetzt koch’ ich.‘“
Wenn mich Kinder fragen, ob ich echt ein Pirat war, sag ich: „Ach, das war früher. Jetzt koch’ ich.“