Was geht bloß in solchen Köpfen vor?
Ein US-Professor lobte 1934 ein Preisausschreiben für Mitglieder der NSDAP aus. Gesucht wurden Personen, die am besten beschreiben, wie sie zu Nazis wurden. Einige der 683 Berichte sind jetzt zum ersten Mal in Deutschland erschienen – sie sind erschrecken
Der 30. Januar 1933 gilt als Tag der Machtergreifung. Es kam, was die frühen Anhänger des Nationalsozialismus herbeigesehnt und auch herbeigekämpft hatten. Aber Adolf Hitler musste die Macht gar nicht mehr ergreifen, er bekam sie ausgehändigt – Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte ihn zum Reichskanzler.
Es begann eine Phase der aktiven Machtkonsolidierung, die massiv Schwung bekam, als die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 mit klarem Abstand stärkste Partei wurde.
Wir wissen, was folgte: ein diktatorischer und doch über lange Zeit vom Volk getragener Führerstaat, konsequente Politik zugunsten der „arischen“Volksgenossinnen und Volksgenossen, ein Raub- und Rassenkrieg gegen die halbe Welt und schließlich der Holocaust.
Der Soziologe Theodore Abel (1896-1988) von der Columbia University in New York fragte sich in den Jahren 1933/34, wie es zum Durchmarsch Hitlers hatte kommen können. Warum wurden so viele Deutsche Nazis?
Um Antworten zu bekommen, ersann Abel das Preisausschreiben „Warum ich Nazi wurde“. Mit Preisen „im Wert von 400 Mark für die beste persönliche Lebensgeschichte eines Anhängers der Hitler-Bewegung“lockte er in seinem Aufruf, den er im Juni 1934 mithilfe des NS-Propagandaministeriums in Nazi-Publikationen platzierte.
Wichtigstes Kriterium: Jeder Teilnehmer sollte vor dem 1. Januar 1933 der NSDAP beigetreten sein oder mit der Bewegung sympathisiert haben. Familienleben, wirtschaftliche Bedingungen, Erfahrungen, Gedanken, Gefühle – das sollte aufgeschrieben werden, und zwar in aller Offenheit. Formalien spielten keine Rolle.
Und die „Alten Kämpfer“, die meist recht jung waren, schrieben. 683 Texte gingen ein, 581 sind erhalten, 36 von Frauen. Ein dokumentarischer Schatz, der bis heute ungehoben blieb.
Professor Abel selber scheiterte an der Komplexität des Materials. Ähnlich ging es dem deutsch-amerikanischen Politologen Peter H. Merkl, der sich in den 1960ern fünf Jahre lang mühte, bis das Geld versiegte.
Deutsche historische Einrichtungen wie das Institut für Zeitgeschichte in München, die das Potenzial gehabt hätten, sich mit dieser einzigartigen Quelle zu befassen, und die wussten, dass das Material in amerikanischen Archiven lag, blieben uninteressiert.
Schon die erste Lektüre macht dessen Brisanz klar: Da schreiben lauter Jedermanns, normale Leute, und sie äußern Vorstellungen, die auch heute politisch vertreten werden – vor allem wenn es um das Soziale geht.
Wie so oft in der deutschen Geschichtsschreibung zu den Themen Nationalsozialismus und Holocaust hat es ein Randständiger unternommen, Wichtiges, hier die Abel-Sammlung, der Öffentlichkeit vorzulegen und Lesehilfen zu geben. Wieland Giebel, Autor und Verleger, Gründer des Vereins Historiale, der im Berlin Story Bunker die Dokumentation „Hitler – wie konnte es geschehen?“mitbetreibt, hat die Dokumente in den Archiven zusammengesucht – mithilfe amerikanischer Praktikanten und privat finanziert. Sein jetzt erschienenes Buch enthält 85 Biogramme als Faksimile, also knapp 15 Prozent der erhaltenen. Berlinerinnen und Berliner lieferten 180 Texte ab.
Die Authentizität der Botschaften macht durchaus Eindruck: individuell, fast völlig frei von Floskeln. Sie eröffnen Blicke auf die Verfasser und lassen sichtbar werden, wie und aus welchen Motiven diese – freiwillig, oft nach langer Suche und weil sie es wollten – zu den Nazi-Ideen fanden.
Gustav Heinsch, Arbeiter aus Berlin-Westend, schrieb: „Wer sich in der Kampfzeit zum Nationalsozialismus bekannte, hatte damals allein schon eine Große Tat vollbracht. Fast alle waren wir ja damals verfemt, selbst in der eigenen Familie prallten die Gegensätze aufeinander.“
Was hatte die Schreiber diesen Kampf getrieben?
Fritz Junghanss aus Charlottenburg war der heißen Mischung von Nationalismus und in Sozialismus verfallen, die (bis heute) große Anziehungskraft entfaltet und in den Texten auf vielfache Weise variiert wird: „Gerechtigkeit in den sozialistischen Forderungen des Programms, Gerechtigkeit dem Arbeiter gegenüber, dessen Verbitterung ich verstand.