Herrmann Müller, Arbeiter, Klempner, Arbeitsloser
Schock: Am Potsdamer Platz tobte „Hoch- und Niedergebrüll“, sie beschrieb Erschaudern, weil ein Jude von einem Lastwagen schrie, der Kaiser habe abgedankt und Fritz Ebert die Führung des Reiches übernommen.
„Es war gewiss der gesunde Instinkt einer deutschen Seele“, meinte Hedwig Eggert 1934 rückblickend, „welche aus all diesen Wirrnissen nichts Gutes ahnte.“Die verstörte junge Frau beklagte: „Ein Drunter und Drüber und keiner wusste, wo er hingehörte. Täglich entstanden neue Parteien. Jeder war des anderen Feind geworden, und alle vergaßen darüber, dass sie eigentlich Deutsche waren und sich hätten einig sein müssen. Keiner war da, der das Volk zur Besinnung brachte und einte. Eine Partei machte die andere schlecht. Ein Mensch, der nun zwischen all den Parteien stand, war unglücklich und glaubte, zerquetscht zu werden.“Ihr Verdacht: „Da steckt jemand dahinter, der unser Vaterland in den Abgrund ziehen will.“
Später, inzwischen Näherin in einem Modesalon, heiratete Hedwig Eggert einen unpolitischen Luftikus und ging zur Deutsch-Nationalen Partei von Knüppel-Kunze (Richard Kunze, völkisch-nationalistischer Lehrer in Schöneberg, bald Verbreiter der Legende von der jüdischen Weltverschwörung). Der bot fast, was sie suchte, aber nicht ganz.
Im Jahr 1923 hörte sie von Hitler, „diesem mustergültigen Mann“. Kurz darauf kam ihre Tochter zur Welt; sie trennte sich von ihrem Mann, dem „leichtsinnigen Menschen“, machte sich mit einer Nähstube selbstständig. Abends las ihr Schwager aus „Mein Kampf“vor: „Das gefiel uns.“Als Hitlers Kampfschrift als Volksausgabe für sieben Mark erschien, kaufte sie das Buch, um es an andere „Volksgenossinnen“zu verleihen.
Für das Preisausschreiben berichtete sie von „herzerfreuenden Versammlungen mit unserem lieben Dr. Goebbels“und von ihrem ersten Mal mit dem Führer – im Saalbau Friedrichshain.
Im Jahr 1928 wurde sie Parteigenossin und erlebte nun die „schlimme Verbotszeit“. Kommunisten zerschlugen ihren Zeitungskarren, den sie inzwischen betrieb. Trotzdem spendete sie für die Partei und Goebbels, der gerade „sehr schwach bei Kasse“war. „Ich hätte mich für die nationalsozialistische Idee in Stücke reißen lassen“, bekannte sie.
Der Führer erwiderte die starke Zuwendung der Frauen unter anderem, indem er zum ersten deutschen Gender-Politiker wurde: Kein Politiker vor ihm (und lange nach ihm) begann seine Reden konsequent mit der Anrede „Volksgenossinnen und Volksgenossen“.
Aus dem vielfältigen Panoptikum deutschen Lebens destilliert Wieland Giebel, der Herausgeber des Bandes, einige zentrale Motive heraus, die in den autobiografischen Einsendungen in der einen oder anderen Form immer wieder auftauchen. An erster Stelle die zündende Idee der harmonischen Volksgemeinschaft. Hitler habe, das sieht Giebel auch von diesen Selbstzeugnissen bestätigt, nicht nur die erste Volkspartei gegründet, er habe sie erfunden: „Eine Partei, die nicht an katholisch oder evangelisch gekoppelt ist, die nicht regional auftritt, die nicht für eine bestimmte Klasse da ist wie die KPD für das Proletariat.“
Die Abel-Sammlung belegt, wie verzweifelt viele Deutsche über die Folgen des Revolutionschaos 1918/19 und der Hyperinflation von 1923 waren und wie verhasst ihnen der nicht enden wollende Parteienstreit der Weimarer Republik war.
Und weit und breit war kein starker Mann zu sehen, der das Reich ordnen und führen konnte – 15 Reichskanzler zugängliche Sammlung birgt Teile der Antwort auf die Frage, wie die Deutschen zu einem Volk wurden, das Raub und Massenmord als begrüßenswerte Methoden staatlichen Handelns erachtete. Die meisten der Schreiber werden sich an den sozialpolitischen Großtaten der Nazi-Regierung ebenso gefreut haben wie am Verschwinden der Juden.
An der Kleinteiligkeit der Biogramme mögen Wissenschaftler verzweifeln. Aber wer heute in politisch vergleichsweise schläfriger Zeit wissen möchte, warum nationalistische Ideen wieder Massen ergreifen, wird in den politischen Lebensberichten deutscher Normalos von 1934 einige Antworten finden. Was nervt heute? Parteiengezänk, unfähige Politiker, laute Minderheiten. Wir sehen den Zorn der Abgehängten, den Neid der Zukurzgekommenen, die Furcht vor neuer Konkurrenz, Abstiegsängste. Und erkennen sie wieder.
Inflation, Deflation, Auspressung der Gewerbetreibenden als Steuerzahler. Man nahm mir die letzte Substanz.
Das Buch:
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Wieland Giebel (Hrsg.): Warum ich Nazi wurde. Biogramm e fr üher Nationalsozialisten. Berlin Story, Berlin 2018, 930 Seiten ; 49 ,95 Euro