Leben mit dem Tod
Zum Totensonntag: Der Umgang mit dem Sterben. Begegnungen mit einer Schwerkranken, einem Bestatter und einer spirituellen Trauerbegleiterin
NNE-KATTRIN PALMER
ihren Träumen acht mitunter ein ännlein an ihrem Bett. Es ist liebevoll und raunt ihr zu: „Komm mit.“Dann antwortet sie trotzig: „Lass mich. Ich bin noch nicht so weit.“Franziska Hutschenreuther möchte noch nicht sterben. Sie weint oft über die ngerechtigkeit des ens, den Tod und Abschiednehmen. Über ihren Sohn Hugo, der gerade erst sechs Jahre alt ist und den sie nicht alleinlassen will. Und über ihren Mann Ronny, den sie so sehr liebt.
Sie ist doch erst 42.
Wir treffen Franziska Hutschenreuther daheim. Die Berlinerin wirkt benommen vom Schlaf, tastet sich langsam zu dem Tisch in der Mitte des Raumes.
Ronny reicht ihr eine Decke, damit sie nicht friert.
Sie fröstelt oft – selbst im Sommer trägt sie draußen Lammfell-Boots. Dann starren die Menschen die Frau im Rollstuhl oft an. „Aber das schert mich längst nicht mehr“, sagt sie.
Franziska Hutschenreuther ist schwer krank. Am 8. Oktober dieses Jahres sagten ihr die Ärzte, dass ihr Körper nicht mehr lange mitmachen werde und sie jederzeit einfach einschlafen könnte. Dass sie austherapiert sei. Sie saß nur da und weinte.
Die 42-Jährige: „Die Ärzte oder andere reden jetzt ständig davon, das Leben müsse für mich ja auch lebenswert sein. Doch wer sagt, was lebenswert ist? Ich möchte einfach so lange wie möglich da sein.“
Möchte noch da sein an ihrem Geburtstag am 15. Dezember, da sein zu Weihnachten, da sein kommendes Jahr bei der Einschulung ihres Sohnes. „Und darüber hinaus“, sagt ihr Mann Ronny und drückt ihre Hand.
Seit zwei Jahren lebt das Paar mit der Ungewissheit, ob Franziska den Krebs besiegen kann. 2016 kehrte bei ihr der Lungenkrebs zurück, den sie bereits mit neun Jahren das erste Mal besiegt hatte. Diesmal hat er unter anderem in den Kopf gestreut. Seitdem führt das Paar einen Kampf gegen den Tod. „Ich möchte meinen Sohn heranwachsen sehen“, sagt sie leise.
Hugo wächst damit auf. Wenn er von der Kita heimkommt, fragt er immer als Erstes, ob Mama noch da sei. „Wir reden viel darüber, es bestimmt unseren Alltag“, sagt Ehemann Ronny. Wenn ihm mal wieder alles zu viel wird, geht Ronny zum Kickboxen oder er schlägt den Sandsack windelweich, der im Flur hängt.
In den vergangenen zwei Wochen hat sich Franziska Hutschenreuthers Gesundheitszustand rapide verschlechtert. Sie kann kaum mehr reden, kaum schlucken. Täglich nimmt sie 40 Medikamente – Naturprodukte, pharmazeutische. Die Chancen stehen nicht gut. Sie greift dennoch nach jedem Strohhalm, hofft unermüdlich, dass ein neues Medikament den Krebs stoppen könnte. Ehemann Ronny möchte die Kombination finden, wie man die schlimme Krankheit seiner Frau wenigstens auf alten kann. „Für sie,
für mich, für Hugo, für uns“, sagt er leise. Auf der Facebook-Seite „Franziska soll leben“nehmen zahlreiche Menschen Anteil. Sie spenden Geld – auch für Hugos Zukunft.
Neulich suchte sich Franziska Hutschenreuther ein Grab auf dem Georgen-Parochial-Friedhof in Friedrichshain aus. Es kostet die Familie 3000 Euro. Sie und Ronny scherzten noch, dass sie jetzt wenigstens einen Platz hätten, den ihnen in den folgenden 30 Jahren niemand mehr wegnehmen könne: Dieses schöne Fleckchen Erde, direkt an einer Linde, gegenüber einem Märchenbrunnen und mit Blick auf den Fernsehturm. Franziska Hutschenreuther ist sicher: „Meine Seele fliegt einmal in diese Linde.“Und sie komme als Marienkäfer ins Leben zurück.
Irgendwann rief Ronny Hutschenreuther bei einem Bestatter an. Ronny: „Ich möchte nachher in meiner Trauer nicht alles organisieren. Das schaffe ich nicht.“Und seine Frau einfach abholen, sie irgendwo alleinzulassen, das komme für ihn nicht infrage. Dabei wolle er eigentlich doch gar nicht, dass es so weit kommt, sagt er entschuldigend. Franziska solle doch leben.
Es ist ein schwerer Gang für die Familie. Dieser ständige Umgang mit dem Tod lastet auf der Seele. Dieses Endliche und Unausweichliche. Andere zurückzulassen – im Ungewissen und oft ohne Orientierung. Geschockt und verzweifelt, kaum fähig, etwas zu tun.
Als Eric Wrede vor fünf Jahren sein Bestattungsinstitut „Lebensnah“gründete, wollte er etwas verändern. Ihm schwebte eine neue Bestattungskultur vor, verbunden mit einem menschlicheren, aber auch natürlicheren Umgang mit dem Sterben und dem Tod. Er hat inzwischen einige Menschen wie Franziska und Ronny Hutschenreuther kennengelernt. Ändern kann er nicht viel. Er kann aber einfach nur da sein. Das hilft.
Eric Wrede ist 38 Jahre alt. Der Mann mit der Wollmütze und dem Vollbart ist gerade Vater geworden. Als er seine kleine Tochter das erste Mal in seinen Armen hielt, kamen ihm die Tränen über das Wunder der Geburt, über das Leben. In diesem Moment schob er den Tod weit weg.
Wir treffen den gebürtigen Rostocker in seinen Räumen im Prenzlauer Berg in Berlin. Ein langer Holztisch steht im Raum, in Regalen schlichte, aber auch in fröhlichen Farben angemalte Urnen. Sehen aus wie Vasen. Ein Hund liegt auf dem Sofa und verbreitet eine kuschelige Atmosphäre. Dann sind da noch Lego-Figuren im Schaufenster. Es sind Beerdigungsszenen, spielerisch in Szene gesetzt. Sie gefallen besonders Kindern, sagt er.
Bevor Eric Wrede sich dem letzten Kapitel des menschlichen Lebens widmete, managte er Musiker wie Selig oder Marius Müller-Westernhagen, feierte Partys und hatte irgendwann genug vom Rock ’n’ Roll. Er lehnt sich zurück: „Ich hab’ das Beste erlebt, was ein junger Mann Mitte 20 haben kann, der selbst Musik-Fan ist. Doch irgendwann mit 30 fragt man sich: Was möchte ich denn machen, wenn ich 50 bin, wenn ich 60 bin? Was sind Sachen, die mich langfristig erfüllen?“
Eric Wrede hatte damals die Wahl. Er wollte etwas mit Menschen machen, immerhin habe er ein „ausgewiesenes Helfersyndrom“und er liebe es, sich in andere hineinzuversetzen.
Er erzählt davon, als er seine ersten Schritte in den Job machte und sich mit vielem Unangenehmen konfrontiert sah. Es ging kaum um die Menschen, sondern oftmals nur um ZackZack und Profit. „Ich lernte eine Menge“, sagt er, fügt hinzu: „Ich bekam Einblick in ein Geschäft, das durchsetzt ist von Vorschriften und Regeln, von fehlender Menschlichkeit und vom Streben nach Gewinnmaximierung, das sich als rein technischer Dienstleister für die Bestattung sieht. Oft eine reine Beutelschneiderei, die trauernde Angehörige uninformiert, aber um einiges ärmer zurücklässt.“
Er habe ein System kennengelernt, „in dem das Bedürfnis nach Zeit und Ruhe zum Trauern nicht berücksichtigt wird!“Er lehnt sich zurück und fügt hinzu: „Bestatter haben sich in Deutschland den Ruf von Schlüsselnotdiensten erworben.“
Oft hätten Angehörige gar keine Zeit mehr, die Verstorbenen zu sehen. Ärzte würden ihnen in Krankenhäusern den Zugang verweigern – obwohl Tote dort 36 Stunden lang aufgebahrt werden dürfen. Man darf sie sogar mit nach Hause nehmen.
Man darf so vieles – und viele wissen es nicht, sind überfordert und nicht mehr Herr der Lage, sagt der Bestatter. „Dabei geht es doch darum, den Angehörigen oder Sterbenden zuzuhören, sie zu begleiten, sich auf ihre Bedürfnisse einzustellen und ihnen das Gefühl zu geben, aufgehoben zu sein.“
Er versucht jedes Mal aufs Neue, sich in die Lage derer zu versetzen, die einen Menschen verloren haben. „Da gibt es immer eine gewisse Ohnmacht. Egal, wie viel Geld ich habe, egal, wie schlau ich bin – gegen das Sterben kann ich nichts machen.“Er will den Angehörigen dabei helfen, „wieder zurückzukommen ins Leben, ihre Sachen wieder selbst in die Hand zu nehmen und erledigen zu können.“
70 Prozent seiner Kunden kommen vor dem eigenen Tod oder dem eines Angehörigen zu ihm. Sie wollen wissen, wie sie sich vorbereiten können, was sie für Möglichkeiten haben. Dabei bekommt der Beerdigungs-Unternehmer manchmal Einblicke in fremde Schicksale, mit denen er oft erst einmal selbst umgehen muss. Wenn Menschen ihm gegenübersitzen und über ihren Verlust reden, aber auch alte Wunden und Verletzungen aufgerissen worden sind. Es ist ein Leidens-Prozess ähnlich wie beim Liebeskummer – nur endlicher.
Wrede muss aufpassen, dass er nicht abstumpft und automatisiert Antworten gibt. Dass er sich einfühlt, ohne zu bewerten. Wachsam muss er sein. Er ist in dem Moment nicht Geschäftsmann, sondern Seelentröster. Die Angehörigen sollen bei ihm Zeit und Ruhe zum Trauern haben, anstatt sich in Windeseile für ein Sargmodell entscheiden zu müssen.
Wrede nimmt dem Tod den Schrecken, wenn er über seinen ungewöhnlichen Werdegang und seine eindrucksvollen Begegnungen erzählt: mit Menschen, die plötzlich aus dem Leben gerissen wurden, aber auch mit Sterbenden, die das eigene Ende bewusst planen. Wrede erfuhr dabei eine neue Offenheit. Er lernte, Dinge beim Namen zu nennen. Nicht mehr um den heißen Brei herumzureden. „Man bekommt eine Verantwortung“, sagt er, und genau das sei der Sinn des Lebens, nach dem er gesucht habe.
Neulich saß ein älterer LkwFahrer an seinem Holztisch. Er zeigte offen sein Goldkettchen und seine Gefühle. Als seine Mutter vor mehr als 20 Jahren in einem Krankenhaus starb, durfte er sie nicht mehr sehen. Ein Arzt untersagte es ihm. Das wollte er diesmal bei seiner sterbenskranken Frau verhindern. Wrede regelte das.
Der Bestatter hat jüngst ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben. „The End. Das Buch vom Tod“(Heyne, 16 Euro) heißt es. Darin beschreibt er, wie er verbotenerweise eine Urne ausbuddelte, sich mit Ärzten anlegte und was er für seinen eigenen Tod verfügt. In seinem Testament steht unter anderem: „Ich möchte, dass alle interessierten Freunde aus meiner Schallplattensammlung jene Alben nehmen, welche in ihrer Sammlung fehlen.“
Aber macht es das leichter? In Berlin und auch anderen Städten gibt es seit geraumer Zeit einen neuen Umgang mit dem Sterben und dem Tod. So scheint es jedenfalls. Menschen können in speziellen Kursen ihre eigenen Särge zimmern, bei Eric Wrede malen Kinder den
Sarg von Opa an, es gibt die „School of Death“, in der Interessierte sich treffen und Kurse abhalten, die sich mit dem Sterben auseinandersetzen. Schwerkranke gehen dorthin, aber auch Studenten, um etwas übers Leben zu lernen. Zu philosophieren. Antworten zu finden.
Jüngst erschien das Buch von Roland Schulz mit dem Titel „So sterben wir. Unser Ende und was wir darüber wissen sollten“(Piper 2018, 240 Seiten, 20 Euro). Der Journalist stellte fest, das Sterben sei „zu komplex, die Prozesse dahinter von Mensch zu Mensch zu individuell. Sterben, erklärten mir die Ärzte, folgt keinem festen Fahrplan. Meine erste Reaktion war Enttäuschung. Aber je mehr ich mich damit beschäftigte, umso mehr fesselte mich, dass sich Sterben und Tod einem vollständigen Begreifen entziehen.“
Das gelte, schreibt er, erst recht für die Hinterbliebenen: „Trauer ist wie der Wilde Westen, da gibt es keine festen Regeln oder Strukturen.“Jeder trauere anders.
Anja Beitz wird von ihren Kunden oft gefragt, was Leben bedeutet. Wer man sei. Was werde. Die 47-Jährige ist Trauerbegleiterin, Bestatterin und geistige Heilkundlerin. Sie begreift ihren Job auch als spirituelle Aufgabe. Den menschlichen Körper beschreibt sie als eine Hülle, die als Materie vergeht. Der Geist hingegen, davon ist sie überzeugt, bleibe erhalten.
Sie sagt: „Die Menschen und ich kommen uns immer sehr nahe in der Zeit des Abschiednehmens. Es ist eine intime Zeit. Ich komme nicht nur in der Rolle als Bestatterin, sondern in erster Linie als Mensch.“Auch sie beobachtet, dass sich der Umgang mit dem Sterben, aber auch das Verständnis, was Sterben ist, geändert hat. „Wir meditieren, machen Yoga, wir haben mehr Möglichkeiten in unserer heutigen Zeit, nach innen zu gehen. Und neue innere Räume zu erforschen, zu denen wir vorher keinen Kontakt hatten. Es ist ein Wandel, es braucht zwar noch seine Zeit, aber die Türen sind aufgegangen.“
Sie fügt hinzu: „Wir leben nach wie vor in einer Gesellschaft, in der Schmerz, Trauer und Einsamkeit verurteilt werden und deshalb nicht willkommen sind. Ich lade die Menschen ein, mit und bei ihren Schmerzen zu sein. Da kann Heilung geschehen.“Hat sie Angst vorm Tod? Nein, antwortet sie. „Ich fühle eine Kraft in mir, die unsterblich ist.“
Franziska Hutschenreuther sagte uns zuletzt, sie habe inzwischen keine Angst mehr vor dem Tod. Nur dass sie vielleicht zu früh gehen muss, darunter leide sie. Ihr Mann nahm sie bei diesen Worten liebevoll in den Arm. „Wir haben noch viel vor uns“, sagte er. Sie lächelte hoffnungsvoll. Seit zwei Tagen liegt sie im künstlichen Koma.