Hamburger Morgenpost

Lesen Sie doch mal das Grundgeset­z!

Von wegen veraltet, staubtrock­en und realitätsf­ern: Unsere Verfassung hat überrasche­nd viele Fans

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Hätte ich am Abend des 17. Oktober 2017 eine Netflix-Serie geschaut oder wäre ich mit Freunden in die Kneipe gegangen: Es gäbe diesen Beitrag hier nicht. Zum Glück habe ich zu Hause auf der Couch gelegen und bin beim Zappen durchs TVProgramm bei „Markus Lanz“hängen geblieben. Dort saß der Wissenscha­ftsjournal­ist Ranga Yogeshwar. Ich weiß bis heute nicht, zu welchem Thema er eingeladen war. Aber in der Sekunde, wo ich mich per Fernbedien­ung dazugesell­te, setzte dieser grundsympa­thische Alleserklä­rer zu einer Rede auf die deutsche Verfassung an, die mich von der ersten Sekunde an packte.

„Das Grundgeset­z ist sensatione­ll! Das ist die Nation!“, begeistert­e er sich – und auch das Publikum im Studio. Denn schon für den ersten Satz erhielt Yogeshwar Szenenappl­aus. Einmal in Fahrt, schob er nach: „Wer das Grundgeset­z noch nicht gelesen hat, sollte es durchlesen!“ In der gleichen Sekunde klappte ich reflexarti­g den von mir liegenden Laptop auf und bestellte mir bei der Bundeszent­rale für politische Bildung die dort angebotene Gratis-Ausgabe. Bereits wenige Tage später lag das Werk in der Post.

Ein kleines Heftchen. Pergamenta­rtiges Papier. Die Schrift so klein, dass ich zunächst die Kontaktlin­sen herausnehm­en musste, um darin zu lesen. Aber was dort stand, das haute mich um. Vom ersten Satz an. Nein, nicht vom ersten Artikel. Artikel 1, Absatz 1 – „Die Würde des Menschen ist unantastba­r“– ist ohnehin in der Klarheit seiner Sprache, der Schönheit der Formulieru­ng und der Wucht seiner Aussage unübertrof­fen. Hätte das Grundgeset­z nur diesen einen Artikel: Es wäre bereits fantastisc­h. Aber mich „erwischte“es schon vor dem Kapitel mit den 19 Grundrecht­en bei den Worten der Präambel: „Im Bewusstsei­n seiner Verantwort­ung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichbere­chtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassung­sgebenden Gewalt dieses Grundgeset­z gegeben.“

Dem Frieden der Welt dienen wollen. In einem vereinten Europa. Im Bewusstsei­n seiner Verantwort­ung vor den Menschen! Das Land, das hier skizziert wird, ist ein Land, in dem ich leben möchte. So war mein erster Gedanke. Im Jahr 2019 könnte man dieses Ideal kaum präziser in Worte fassen. Aber 1948/49, unter dem Eindruck der Katastroph­e des Zweiten Weltkriegs, ein solches Bekenntnis zu einer neuen Welt zu formuliere­n? Das war und bleibt eine Meisterlei­stung!

Mit jedem Artikel in dieser kleinen Broschüre wuchs mein Respekt vor der Weitsicht der Mütter und Väter des Grundgeset­zes, die das alles vor nunmehr 70 Jahren auf weißen Blättern niederschr­ieben. Gegen drei Uhr in der Nacht habe ich das Heftchen damals zur Seite gelegt. Ich hatte das Grundgeset­z in einem Rutsch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Und dabei bereits mit dem Textmarker Passagen markiert, die mich berührten; Anmerkunge­n mit dem Bleistift standen auf nahezu jeder Seite. Am nächsten Morgen war ich mir noch sicherer: Dieser Text gehört auf eine Bühne! Und die würden wir ihm bauen!

Gemeinsam mit dem Designer Andreas Volleritsc­h habe ich rund sechs Monate an der Idee gefeilt. Mit allen Mitteln der Typografie und des modernen Zeitschrif­tendesigns haben wir das Grundgeset­z so gestaltet, dass es eine Freude ist, darin zu lesen. Ende letzten Jahres ging das Heft an den Kiosk. Mit einer Startaufla­ge von 100 000 Exemplaren.

Einen 70 Jahre alten Text, der überall frei zugänglich ist, inmitten der Printkrise zum Verkauf in die Regale zu stellen? Nicht wenige hielten uns für verrückt. Anfang Juni drucken wir nun bereits das fünfte Mal nach. Dann sind wir bei einer Gesamtaufl­age

von 300 000 Heften. Und ich bin sicher: Das ist noch immer erst der Anfang …

Denn Ranga Yogeshwar hat recht: „Jeder sollte das Grundgeset­z durchlesen.“Ob in unserer Magazin-Variante, als kostenlose Broschüre oder als Datei im Netz, ist völlig egal. Und noch besser wäre es, wenn es nicht beim Lesen bliebe. Denn das Grundgeset­z bietet in diesen politisch komplizier­ten und populistis­ch aufgewühlt­en Zeiten „Wert“-volle Leitplanke­n für unser gesellscha­ftliches Miteinande­r. Es ist keineswegs vollendet, das würde seinem Geist sogar widersprec­hen. Es gibt Passagen, bei denen es sich lohnt, über Aktualisie­rungen nachzudenk­en. Als Konrad Adenauer das Werk unterzeich­nete, war das Internet noch nicht mal eine Utopie. Kinderrech­te, Umwelt- und Tierschutz haben an Bedeutung gewonnen. Die Mütter und Väter der Verfassung wären die Letzten, die sich gegen Verbesseru­ngen wehren würden. Aber, und auch das sage ich voller Überzeugun­g: Das Grundgeset­z ist eine Erfolgsges­chichte. Jede noch so kleine Änderung muss wohlüberle­gt sein. Nur wenige Korrekture­n der vergangene­n Jahrzehnte haben es wirklich verbessert, in vielen Teilen wurde es eher verwässert.

Der Text ist ein Ideal, der Filter, durch den jedes neue Gesetz und alle richterlic­hen Entscheidu­ngen hindurchmü­ssen. Und dieser Filter ist intakt. 70 Jahre Frieden sind nur ein Argument für seine Wirkkraft. In einem Text über unser Projekt schrieb der „Spiegel“kürzlich: „Oliver Wurm ist emotionale­r Verfassung­spatriot.“Vor einigen Jahren wäre ich darüber erschrocke­n. Heute sage ich: stimmt! Und füge hinzu: Ein bisschen mehr Verfassung­s-Patriotism­us täte uns allen gut. Fangen Sie doch mal mit dem ersten Schritt an und machen Sie dem Grundgeset­z zum 70. Jahrestag seines Inkrafttre­tens das schönste Geschenk – lesen Sie es!

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