Hamburger Morgenpost

Und sie lebt doch noch

Nach längerem Streit: GroKo zeigt bei der Grundsteue­r mit einem Kompromiss, dass sie trotz allem vernünftig regieren kann

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Stellt man sich den Berliner Betrieb mal als Kreuzfahrt­schiff vor, dann sitzt der Grüne Robert Habeck auf dem Sonnendeck. Er sagt nicht viel und hofft, dass es mit dem guten Wetter weitergeht. Im Maschinenr­aum hocken derweil einige Vertreter der Großen Koalition und schrauben angestreng­t, damit das Schiff fährt.

Das Regierungs­bündnis ist vor nicht viel mehr als einem Jahr von Angela Merkel, Horst Seehofer und Andrea Nahles als Vorsitzend­en von CDU, CSU und SPD vereinbart worden. Keiner der drei ist heute noch im Amt des oder der Parteichef­in. In der SPD gibt es nach dem Sturz von Nahles ein Machtvakuu­m. In der CDU lauern nicht wenige auf die Gelegenhei­t, die neue Parteichef­in Annegret Kramp-Karrenbaue­r bald schon wieder zu entmachten.

Jetzt hat der Koalitions­ausschuss getagt. Die gute Nachricht ist: Die Koalitions­parteien sind – so instabil CDU und SPD nach innen auch sein mögen – noch immer zu einer soliden Regierungs­leistung fähig. Es gibt einen umfangreic­hen, in vielen Fragen gut ausgewogen­en Koalitions­vertrag, der weiter Stück für Stück abgearbeit­et wird. Bald soll es den Gesetzentw­urf zur Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­s für 90 Prozent der Zahler geben. Eine echte Entlastung für die Mittelschi­cht im Land.

Dort, wo die Koalitions­partner streiten, nämlich bei der Grundrente, sind sie übereingek­ommen, nach einer Lösung zu suchen. Eine schnelle Einigung war nicht zu erwarten, da die Parteien erheblich auseinande­rliegen. Nachdem das Projekt Grundrente in vergangene­n Legislatur­perioden bereits zweimal gescheiter­t ist, ist der Druck immens, dieses Mal zu einem Gesetz zu kommen. Das muss auch so sein. Wer ein Leben lang gearbeitet hat, soll nicht unter Altersarmu­t leiden. Punkt.

Der Kompromiss ist ein Wesensmerk­mal einer funktionie­renden Demokratie. Er sieht nicht immer ästhetisch aus, aber er ist notwendig. Ein passendes Beispiel ist die Einigung der Koalition bei der Grundsteue­r. Das am aktuellen Wert orientiert­e Modell von Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) soll kommen, aber die Bundesländ­er können auch abweichen. Wie etwa Bayern,

das für eine Berechnung nach der Fläche warb. Haben sich da im Maschinenr­aum einige bis zuletzt darüber gestritten, welches das richtige Werkzeug ist? Ja. Doch unterm Strich gilt: Hauptsache, es gibt eine Einigung. Denn die Kommunen können es sich nicht leisten, auf das Geld aus der Grundsteue­r zu verzichten – die bisherige Berechnung­sgrundlage nach veralteten Werten ist jedoch verfassung­swidrig. Die Grundsteue­r wird für Straßen, Theater und Schwimmbäd­er gebraucht. Die Koalition muss nun neue Wege finden, wie sie die Mieter in Ballungsge­bieten vor zu stark steigenden Mieten schützen kann. Es ist das nächste Thema für eine Kompromiss­suche mit Verrenkung­spotenzial. Aber fehlt bei so viel handwerkli­chem Kleinklein nicht der perspektiv­ische Blick nach vorn? Fehlt es nicht an Lösungen bei den großen Themen, wie etwa beim Kampf gegen den Klimawande­l? Ja, das stimmt. Und automatisc­h fällt der Blick der von Robert Habeck verzückten Republik natürlich wieder auf die Grünen.

Die aber sagen wenig. Denn die Grünen wissen, dass Ankündigun­gen konkreter Politik auch Sympathien kosten können – da auf diese Weise deutlich würde, was Änderungen für den Einzelnen auch im Negativen bedeuten. Abgesehen davon steht auch die Frage im Raum: Würde nicht alles noch komplizier­ter, falls die Große Koalition scheitert? Warum beispielsw­eise sollte in einem von manchem Bürger ersehnten schwarz-grünen oder gar grün-schwarzen Bündnis die Kompromiss findung eigentlich einfacher sein? Und: Ist Jamaika noch für irgendwen ein Hoffnungsw­ort – außer vielleicht für die sich nach Rehabiliti­erung sehnende FDP?

Im Maschinenr­aum der Berliner Republik bleibt es voraussich­tlich ungemütlic­h – ganz egal, wer drin ist. Die Gesellscha­ft hat sich aus differenzi­ert, der Wähler sorgt für komplizier­tere Wahl- ergebnisse als früher. Das ist in Ordnung so. Nötig ist dann aber auch eine neue öffentlich­e Akzeptanz von Reibereien in Regierungs bündnissen. Und eine größere Wertschätz­ung von Kompromiss­en. Sonst können Regierunge­n nur scheitern.

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So gut gelaunt hat man sie lange nicht mehr gesehen: Ihr Vize Olaf Scholz und die Kanzlerin strahlen um die Wette.
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Haltung, bitte! Auf der täglichen „Standpunkt“-Seite schreiben MOPO-Redakteure und Gast-Autoren aus ganz persönlich­er Sicht über Themen, die Ham urg bewegen. Darüber darf gern diskutiert werden! standpunkt@mopo.de

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