Hamburgs düstere Seiten
Polizeimuseum veröf entlicht sensationellen Bildband. Tatortfotos aus der Kaiserzeit: Als in der Stadt Mord und Totschlag regierten
Für schwache Nerven ist dieses Buch nichts. Ganz und gar nichts! Sollten Sie also zart besaitet sein, dann machen Sie im Buchladen lieber einen großen Bogen um den Band mit dem Titel „Hamburgs dunk e Seiten – Verbrechen in Bildern 18901930“. Denn es sind tatsächlich die Abgr nde der Stadt, die hier präsentiert werden. Wer das Buch aufschläg , sieht in die toten Augen von Leichen. Der sieht Erschossene, Erschlagene und Erhäng e. Wer Interesse an Mord und Totschlag hat, an Polizeiarbeit und an der Geschichte des Verbrechens in Hamburg, der wird begeistert sein.
Herausgegeben hat das Buch das renommierte Hamburger Polizeimuseum. Dessen Archivleiter Frank Wiegand und die Hamburger Schriftstellerin Kathrin Hanke haben eineinhalb Jahre an dem Bildband gearbeitet, der den Betrachter weit zurück führt, nämlich bis in die Kaiserzeit. „Belle Époque“wird diese Periode gerne genannt, aber „belle“(nämlich „hübsch“) waren da lediglich die herausgeputzten Ecken, der Jungfernstieg, der Gänsemarkt, Harvestehude und die Villen an der Alster. In den Gängevierteln mit ihren uralten mittelalterlichen Fachwerkhäusern, den engen Gassen und Twieten, war gar nichts „belle“.
Hier war vielmehr das Elend zu Hause. Und weil da, wo sich Elend findet, immer auch das Verbrechen nicht weit ist, trieb sich hier in verruchten Kellerkneipen das Gesindel herum. Räuber, Mörder, Betrüger und Einbrecher saßen in den rauchgeschwängerten Spelunken zusammen und baldowerten ihren nächsten Coup aus. Angst vor der Polizei mussten sie kaum haben, denn die traute sich hier eher nicht rein. Überhaupt waren Fremde gut beraten, diese größten Slums Mitteleuropas zu meiden. Andernfalls liefen sie Gefahr, ihr Hab und Gut und nebenbei auch noch ihr Leben zu verlieren. Denn es hat schon seinen Grund, dass der Volksmund einen der Höfe im Gängeviertel der Altstadt „Totschlägerhof“und die übelste Kaschemme gleich um die Ecke „Verbrecherkeller“nannte. Einfach, weil dort niemand seines Lebens sicher war.
Es gibt viele Leute heutzutage, die glauben, dass Hamburg gefährlich geworden sei. Leute, die sich nach Sonnenuntergang kaum noch nach draußen trauen und sich zurücksehnen in die gute alte Zeit. Diesem Personenkreis sei das Buch „Hamburgs dunkle Seiten“ganz besonders ans Herz gelegt. Denn nach der Lektüre werden sie mit Sicherheit unser heutiges Leben wieder zu schätzen wissen.
Im Hamburg des Jahres 2019 sind Mord und Totschlag äußerst selten. Vor 120 Jahren waren abscheuliche Verbrechen an der Tagesordnung. Dauernd hingen neue Steckbriefe an den Litfaßsäulen: 1000, 2000 oder 3000 Mark Belohnung wurden da geboten für Hinweise, die zur Ergreifung dieses oder jenes gefährlichen Verbrechers führten.
1888 beispielsweise machte der Mord an einem Spediteur namens Hülseberg Schlagzeilen. Ein Unbekannter wählte eine besonders originelle Weise, sich des Leichnams seines Opfers zu entledigen: Er rief einen sogenannten Hilfsmann – Schossow sein Name – und beauftragte ihn, einen Koffer in den Hafen zu tragen, der dort auf ein Schiff verladen werden sollte. Der gute Schossow bemerkte unterwegs, dass Blut aus dem Gepäckstück tropfte, und rief die Polizei, die darin auf die sterblichen Überreste Hülsebergs stieß.
Oder der Mord an Bertha Catharina Eggers, der sich in ihrer Wohnung am Unteren Landweg in Moorf eet ereignete: Als der Ehemann im September 1913 nichts ahnend nach Hause kam, fand er seine Angetraute an der Decke aufgehängt vor. Die beiden Hunde waren erschlagen und der Geldschrank, in dem sich 100 Mark in Silber, 800 Mark in Gold und ein Zwanzigmarkschein befunden hatten, war aufgebrochen und leer. Ein Raubmord.
Besonders schrecklich ist das, was sich Elisabeth Wiese, die Engelmacherin von St. Pauli, zuschulden kommen ließ. Fünf Kinder, die ihr zur Pf ege überlassen worden waren, darunter sogar ihr eigenes Enkelkind, ermordete sie aus purer Habgier. Im Kohleofen ihrer Wohnung auf St. Pauli verbrannte sie die Leichen. Gebüßt hat Elisabeth Wiese dafür 1905 auf der Guillotine.
Um der zunehmenden Kriminalität Herr zu werden, stellte sich Hamburgs Polizei ab 1893 völlig neu auf: Vor allem Gustav Heinrich Theodor Roscher hat sich dabei große Verdienste er
worben. Der 1852 als Sohn eines Arztes in Elze bei Hannover geborene Jurist war es nämlich, der als neuer KripoChef moderne Ermittlungsmethoden und -techniken wie das Fingerabdruckverfahren einführte und so dafür sorgte, dass Hamburgs Kriminalpolizei schon bald im Ruf stand, eine der modernsten der Welt zu sein.
Kripo-Chef Roscher baute auch den Erkennungsdienst aus, führte ein einheitliches „Generalkartenregister“ein, das alle Personen erfasste, die jemals mit der Polizei zu tun hatten. Schon nach sechs Jahren enthielt das Verzeichnis 190000 Namen. Roscher führte Spezialkarteien für Tätowierungen, Narben, Handschriften, ja, sogar für Spitznamen ein. Hatte ein Zeuge mitbekommen, dass ein Täter von seinem Komplizen „Amerikaner-Otto“oder „Zigeuner-Lalli“gerufen wurde (beide Spitznamen gab es tatsächlich!), mussten die Beamten nur in die Kartei schauen und wussten sofort, um wen es sich handelte.
Roscher erkannte auch, welch große Bedeutung die Fotografie für die Polizeiarbeit hat, und ließ die Photographische Anstalt der Polizei ausbauen. Täter, Tatorte, Leichen, ja sogar Handschriften wurden von da an routinemäßig abgelichtet. Um 1900 kam Hamburgs Verbrecheralbum bereits auf 87 Bände und enthielt 31 200 Fotografien.
Davon, dass die Polizeifotografen damals so f eißig waren, haben die Macher des Buches „Hamburgs dunkle Seiten“sehr profitiert. Denn es sind Roschers Verbrecheralben, bei denen sie sich bedient haben. 200 technisch hochwertige Schwarz-WeißFotografien enthält das Buch.
Aber, wie gesagt: Nur reinschauen, wenn Sie überzeugt sind, dem, was Sie da zu sehen bekommen, gewachsen zu sein. Die Bilder geben einen tiefen Einblick in die düsteren Seiten der Hansestadt. Die ganz düsteren Seiten.
Lesen Sie dieses Buch nur, wenn Sie glauben, dass Sie das, was Sie zu sehen bekommen, auch verkraften können.