Rettet die Synagogen-Ruine in der Neustadt!
Die Hamburger Universitätsprofessorin Miriam Rürup macht sich für die Reste der weltweit ersten Synagoge des liberalen Judentums stark
In der Hamburger Neustadt findet sich, in einem Hinterhof versteckt, eine kläglich vernachlässigte Ruine. Das 1943 bombardierte Gebäude ist der Überrest einer 175 Jahre alten, historisch wertvollen und außergewöhnlichen Synagoge, der seitdem verrottet. Das ist ein Skandal. Die Londoner Foundation for Jewish Heritage (www.foundationforjewishheritage.com) hat sie in ihre „Top 19 Watchlist“der am stärksten bedrohten jüdischen Relikte in Europa aufgenommen – von insgesamt 3318 von Zerstörung und Verfall bedrohten Objekten!
Die Mauerreste sind dabei doch weit mehr als eine Ruine: Hier, in der Poolstraße, befindet sich die Wiege des liberalen Judentums. Dieser Ort muss dringend entwickelt werden und zwar unter Einbeziehung aller jüdischen ebenso wie nichtjüdischen Interessierten, den Anwohnern und der Stadt. Denn es handelt sich um jüdisches und hamburgisches Kulturerbe von einzigartigem Wert. Warum?
1817 gründete sich der Neue Israelitische Tempel-Verein. Dieser Verein, der angetreten war, das Judentum zu reformieren, erbaute hier seine erste Synagoge, Tempel genannt. Dieser Bau mit etwa 600 Sitzplätzen steht damit für eine Besonderheit Hamburgs: Er war der weltweit erste Synagogenbau des liberalen Judentums überhaupt. Liberale Juden wollten das traditionelle Judentum durch Reformen wiederbeleben. Sie führten Neuerungen ein, darunter die Predigt in deutscher Sprache, die OrgelBegleitung der Gottesdienste und gemischter Chorgesang von Männern und Frauen.
Auch Gebetbücher kamen auf den Prüfstand und wurden teilweise überarbeitet. Heute steht das liberale und Reformjudentum unter anderem für die gleichberechtigte Rolle von Frauen und Männern im Gottesdienst, sodass heute auch Frauen Rabbinerinnen werden können.
Der einzigartige Tempelbau in der Hamburger Poolstraße, eingeweiht 1844, stand wie alle frühen Synagogenbauten in einem Hinterhof. Anders sah dies 60 Jahre später aus, als 1906 die
Bornplatzsynagoge am Grindelhof errichtet wurde. Sie war der erste frei stehende, äußerst prächtige Synagogenbau in Hamburg und hatte als Hauptsynagoge der orthodoxen Juden Platz für über 1000 Gläubige. In der Pogromnacht 1938 wurde sie angezündet und geschändet. Ein Jahr später musste die jüdische Gemeinde das Gebäude auf eigene Kosten abreißen lassen.
Die so gerissene Lücke blieb nach dem Krieg lange Brache. Erst in den 1980er Jahren regte sich dagegen Widerstand, und so entstand aus einem breiten Bündnis von Stadt, Zivilgesellschaft und jüdischer Gemeinde die heutige Gestaltung des Platzes. Das Mahnmal von Margrit Kahl, das dort heute als Bodenmosaik an Synagoge wie Zerstörung gleichermaßen erinnert, wurde 1988 eingeweiht. Zusätzlich wurde der Platz nach dem letzten Oberrabbiner Hamburgs, Joseph Carlebach, benannt.
Heute nun wird über eine Überbauung des Mahnmals diskutiert. Natürlich beruhigt und berührt es mich – auch als Jüdin –, dass so viele Menschen sich nun aus Betroffenheit über den Anschlag von Halle für eine Stärkung des jüdischen Lebens einsetzen möchten. Ich würde allerdings dringend raten, erst einmal innezuhalten. Denn es beschleicht mich zum Beispiel die Sorge, dass mit der Überbauung des Mahnmals auch eine anhaltend offene Wunde überdeckt werden würde, als ließe sich durch den Nachbau von etwas längst Zerstörtem die Vergangenheit heilen.
Unbedingt sollten wir darüber nachdenken, wie jüdisches Leben in seiner ganzen Bandbreite unterstützt werden könnte. Sich jetzt schon auf einen Synagogenbau und einen Ort festzulegen, erscheint mir verfrüht. Über ein Begegnungs- oder ein Kulturzentrum, möglicherweise auch mit einem jüdischen Museum nachzudenken, ist hingegen sehr sinnvoll. Dafür bräuchten wir einen Ort, der der Vielfalt des Judentums Ausdruck verleiht. Denn wenn wir an die Vergangenheit des jüdischen Lebens in der Vorkriegszeit anknüpfen wollen, so müssen wir auch diese Vielfalt wieder aufbauen.
Bei der Suche nach einem Ort dafür wäre es beispielsweise angeraten, auch auf die ehemalige Synagoge in der Poolstraße zu blicken.
Wenn ich die Poolstraße betrete, so sehe ich nicht nur die Überreste einer architektonischen Perle, sondern auch die Stein gewordene Erinnerung an ein vielfältiges, pluralistisches Judentum, wie es im 19. Jahrhundert hier in Hamburg entstand. Von diesem Ort geht ein historischer Zauber aus.
Als Vertreterin eines Forschungsinstituts setze ich mich für den sensiblen Umgang mit der reichhaltigen und zugleich konfliktbehafteten jüdischen Vergangenheit Hamburgs ein. Dazu gehört für mich auch der Erhalt des Mahnmals am Joseph-Carlebach-Platz. Als im pluralistischen und weltoffenen jüdischen Milieu geprägter Mensch liegt mir die Poolstraße besonders am Herzen – auch sie stellt eine Lücke dar und atmet Geschichte.
Dank des erkennbaren Engagements von Hamburgerinnen und Hamburgern ist jetzt ein guter Moment, einen solchen Prozess zu beginnen und gemeinsam zu überlegen: Wie wollen wir als jüdische und nichtjüdische, als vielfältige und weltoffene Stadtgesellschaft jüdisches Leben fördern? Dieser Prozess beginnt erst. Hamburg hat jetzt die Chance, sein reichhaltiges jüdisches Erbe wiederzuentdecken und zu stärken, das glücklicherweise nicht überall ein so trauriges Hinterhofdasein wie die Ruine in der Poolstraße fristet.
Hamburg hat die Chance, sein reichhaltiges jüdisches Erbe wiederzuentdecken und zu stärken. Prof. Miriam Rürup