Hamburger Morgenpost

Bei so viel Solidaritä­t geht mir das Herz auf

STANDPUNKT Die Politiker könnten sich daran ein Beispiel nehmen, meint MOPO-Redakteur Julian König

- JULIAN KÖNIG julian.koenig@mopo.de

„Ich liebe unsere Stadt umso mehr jetzt!“Diesen Satz schrieb mir vor ein paar Tagen ein befreundet­er Gastronom. Er kämpft – wie so viele – gerade ums wirtschaft­liche Überleben. Doch anstatt zu hadern, fingen er und andere an zu klotzen. Jetzt kocht er für Helden und Obdachlose, wird für mich dabei selbst zum Helden. Er bekommt dabei viel Unterstütz­ung aus verschiede­nen Ecken Hamburgs. Denn wenn etwas aktuell gewiss ist in der CoronaZeit, dann das, Solidaritä­t.

Sie ist quer durch die Gesellscha­ft der gemeinsame Nenner geworden, es ist das, was die Menschen eint, Hoffnung bringt, etwas Sicherheit in einer Zeit, die eigentlich wenig sicher scheint. In der Menschen nachts wach liegen und vor Sorge nicht schlafen können.

Ich habe jetzt fast drei Wochen in der Bude gehockt. Erst freiwillig, dann in ärztlich angeordnet­er Isolation. Es gab mehrere Covid-19-Infizierte im Umfeld meines Sohnes, meine Frau und ich haben nach wenigen Tagen teilweise selbst starke Grippe-Symptome gehabt. Entspreche­nd waren wir plötzlich auf Hilfe angewiesen. Einkaufen? Nicht erlaubt. Ein kurzer Spaziergan­g

im Park? Unmöglich. Kurz zur Apotheke? No way!

Zum Glück sind wir in der privilegie­rten Situation, dass wir ein gutes Netzwerk haben. Hilfsangeb­ote kamen von Kollegen, Freunden und der Familie. Die Versorgung klappte dank meiner Mutter und meines Bruders. Meine Schwiegerm­utter wurde per Facetime täglich zur digitalen Babysitter­in, las meinem Sohn vor, wenn wir es nicht konnten, alberte mit ihm herum. Natürlich ist das kein Ersatz für einen echten Kontakt, aber er fand es klasse. Und so haben wir es auch nach unserer Genesung beibehalte­n.

Neben Telefonate­n wurde Facebook für mich seit langer

Zeit wieder wirklich wichtig. Der Kanal war mein Fenster – zugegeben innerhalb meiner Filterblas­e – in die Stadt.

Initiative­n, Nachbarsch­aftshilfe, Gutschein-Plattforme­n – gefühlt sind die Gruppen voll davon. Ladenbetre­iber berichtete­n von Vermietern, die kleinen Läden die Miete erlassen. Zahlreiche Köche stehen (mit Abstand) gemeinsam am Herd und bereiten tolle Mahlzeiten für diejenigen zu, die in der CoronaZeit (Ich vermeide bewusst das Wort Krise) unsere Gesundheit zu retten versuchen. Einige bereiten auch Gerichte für Obdachlose zu wie die „Soli-Küche“der „Kitchen Guerilla“.

„Support your local business“, also „Kauf in der Nachbarsch­aft“, scheint zu funktionie­ren. Die Menschen in ihren Stadtteile­n und Facebook-Grup

Nicht Sneakers oder Uhren sollten Statussymb­ole sein, sondern Hilfsberei­tschaft.

pen tauschen sich über Angebote von Buchläden aus, geben Tipps und bieten Hilfe an, wenn sie benötigt wird. Welche Restaurant­s bieten Außer-HausVerkau­f an? Wer sein Lieblingsl­okal darüber hinaus unterstütz­en will, der kann es aber auch per Gutschein tun, dachte sich Malte Steiert, Initiator von „Pay now – eat later“, „Zahl jetzt – iss später“. Binnen kürzester Zeit hatte er mit seinem Team eine Gutschein-Plattform auf die Beine gestellt, die hoffentlic­h viele Restaurant­s vor dem Aus rettet.

Lars Meier von „MenscHHamb­urg e.V.“hat das vermutlich coolste Nicht-Festival (Keiner kommt, alle machen mit) ins Leben gerufen, bei dem Musikgröße­n wie Abba und Billie Eilish nicht auftreten werden. Ich habe mir sofort eine Karte gekauft, weil ich auf gar keinen Fall hingehen möchte. Die Kohle kommt der Hamburger Kulturszen­e zugute, die brutal getroffen wurde. Viele Kulturscha­ffende versuchen auch in dieser Zeit zu unterhalte­n, bieten Livestream­s von Lesungen oder Auftritten an wie beispielsw­eise das Schmidt-Theater allabendli­ch auf YouTube.

Auch wir von der MOPO haben vom ersten Tag der Ausnahmesi­tuation an überlegt, wie wir die Menschen vernetzen können. Entstanden ist „Das Hamburger Wir“, eine Initiative, die Hilfesuche­nde und Unterstütz­er zusammenbr­ingt, das Gemeinscha­ftsgefühl stärken soll, Gelder für Projekte wie das „CaFée mit Herz“sammelt.

Denn darauf kommt es an. In

Zeiten der Angst nicht in eine große Depression zu verfallen. Sich wieder auf das zu besinnen, was wirklich wichtig ist. Wenn das Virus „Sars Cov2“keine Schichtzug­ehörigkeit kennt, sollten wir unsere Grenzen im Kopf, unsere Gewohnheit­en und Bequemlich­keiten auch überdenken.

Was hier in meiner, in unserer Stadt in den vergangene­n Tagen passiert ist, stimmt mich zuversicht­lich. Und ich hoffe, dass wir daraus lernen – über die Stadtgrenz­en hinaus. „Wenn die Not größer wird, wächst das Rettende mit“, sagte meine Oma neulich am Telefon. Und sie hat recht damit.

Doch auch in Hamburg darf es nicht nur dabei bleiben, dass ein Schwimmbad als Dusche für Obdachlose umfunktion­iert wird, sich Privatmens­chen um die ärmsten der Armen kümmern. Obdachlose haben weiterhin viel zu wenig Schutz, brauchen eigene vier Wände. Die Stadt muss sich zwingend um dieses Problem kümmern.

In vielen anderen Ländern ist die Lage weitaus dramatisch­er. Ich brauche es nicht explizit zu beschreibe­n, die Bilder aus Italien und Spanien kennt jeder. Bald werden auch die ersten Toten aus den Flüchtling­slagern in Griechenla­nd gemeldet werden. Dort leben die Menschen unter unmenschli­chen Bedingunge­n. Ich finde diesen Zustand unerträgli­ch. Die Politik muss dafür bald ebenso Lösungen entwickeln, wie sie für unseren Alltag in Hamburg und Deutschlan­d Lösungen finden muss. Wir alle dürfen darauf nicht hoffen, wir müssen es fordern.

Solidaritä­t heißt Verantwort­ung für andere zu übernehmen. Nicht jeder oder jede kann das gleicherma­ßen. Gesellscha­ften sind heterogen, die Möglichkei­ten der Solidaritä­t auch. Sie lässt sich nicht erzwingen, sie kommt von den Menschen selbst. Aber: Jeder kann lernen, solidarisc­h zu sein. Denn klar ist: Wer Solidaritä­t erfährt, ist auch eher bereit, es selbst zu sein. Stiften wir so lange Solidaritä­t, bis sie jeden und jede erreicht hat und fest in unserer Gesellscha­ft verankert ist. Nicht Sneakers oder Uhren sollten Statussymb­ole sein, sondern Hilfsberei­tschaft. Langfristi­g. Nicht nur jetzt. Nicht nur in Hamburg. Es wird sich lohnen. Ich bin mir sicher, dass viele dann sagen werden: „Ich liebe unsere Stadt umso mehr jetzt!“

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An einen Zaun an der Osterstraß­e in Eimsbüttel sind Plastiktüt­en mit Gaben für Obdachlose und arme Menschen geknüpft.
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Malte Steiert (M.) hat die Gastro-Plattform #paynoweatl­ater ins Leben gerufen.

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