Hamburger Morgenpost

Wissenscha­ft als Sündenbock

Warum so etwas Gift in Krisen-Zeiten ist

- MAIK KOLTERMANN chefredakt­ion@ mopo.de

Die Welt lechzt nach einfachen Antworten, die Welt steht auf Schwarz-Weiß. Ist das Virus nun eine tödliche Gefahr? Oder ist es so normal wie die Grippe? Ist es sicher, die Schulen zu öffnen? Oder völlig verantwort­ungslos? Mit der Corona-Pandemie wird die Kluft zwischen dem, was Wissenscha­ft leisten kann, und der menschlich­en Gier nach einfachen Lösungen so spürbar wie vielleicht nie zuvor. Das zeigt der Angriff der „Bild“auf Deutschlan­ds bekanntest­en Virologen. Christian Drosten (48) ist ein Mann, der bis vor Kurzem nur Insidern bekannt war. Heute nennt ihn die „Bild“„Star-Virologe“. Auch so eine Wortschöpv­or fung, die wenigen Monaten ähnlich viele Fragezeich­en provowie ziert hätte „neue Normalität“. Drosten arbeitet an der Berliner Charité, gehört weltweit zu den angesehens­ten Forschern auf dem GeCoronavi­ren. biet der Die Kanzlerin vertraut auf sein Urteil. Ursula von der Leyen tut es. Er ist mit seiner Forjetzt schung von auf gleich in den Mittelpunk­t allen Handelns, aller wichtiexis­tenziellen gen und Fragen dieser Zeit geraten. Und er hat das Talent, selbst die komplexest­en Zusammenhä­nge ruhig und anschaulic­h vermitteln zu können. Der NDR-Podcast „Coronaviru­s-Update“, in dem er mehrmals wöchentlic­h einordnet und erklärt, ist auch deshalb eine Erfolgsges­chichte.

Für viele Menschen haben diese Gespräche geradezu therapeuti­schen Wert. Wo alles aus den Fugen zu geraten scheint, wo tiefe Verunsiche­rung unseren Alltag prägt, da spricht Drosten freundlich und aufgeräumt über Erkenntnis­se der Forschung, über den Sinn einer Maskenpfli­cht, über Impfstoff-Entwicklun­g und all die Dinge, die heute jeden von uns betreffen. Was sich ja immer noch bizarr genug anfühlt, wenn man mal dazu kommt, darüber mit ein wenig Distanz nachzudenk­en.

Nun also wurde Drosten von der „Bild“abgekanzel­t: „Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht“, titelte Julian Reichelts Meinungs-Maschine gestern. „Fragwürdig­e Methoden“, war im Innenteil der Zeitung zu lesen. Und: „Drosten-Studie über ansteckend­e Kinder grob falsch“.

Im Internet jubelten all jene, für die der Mahner zur Vorsicht und Rücksichtn­ahme mit zunehmende­m wirtschaft­lichen und sozialen Druck längst zum Sinnbild des Bremsers bei den Bestrebung­en um die schnelle Rückkehr zur Normalität geworden war. Die genervt waren davon, dass es bei Drosten oft Vorbehalte gab, wo andere schon dachten und sagten: Halb so wild, jetzt reicht’s auch mal.

Bei den offenkundi­g Durchgedre­hten ist dieser Frust schon lange pervertier­t. Morddrohun­gen haben ihn erreicht, erst gestern wieder. Im Internet kursieren Bildmontag­en, die ihn mit dem SS-Mörder Mengele gleichsetz­en.

Bei „Bild“wollte man Drosten in der Sache packen und zitierte aus den Kommentare­n, mit denen ForscherKo­llegen eine Studie vor ihrer offizielle­n Veröffentl­ichung auf Schwächen abklopfen. Ein gängiger Prozess auf dem Weg zum Erkenntnis­gewinn. Auf einem Feld, auf dem alles Neuland ist.

„Bild“jazzte das zu einer Vernichtun­g der Arbeit hoch, leistete sich dabei unsaubere Übersetzun­gen und unterschlu­g den Zusammenha­ng, aus dem die Zitate stammten. Und die ungefragt Zitierten schlugen die Hände über dem Kopf zusammen.

Diese Form der Berichters­tattung ist Gift für die wichtigste Basis im Umgang mit der Krise: den mühsamen Kampf um sachlichen Erkenntnis­gewinn. Um Hinweise darauf, wo Chancen und Risiken im Umgang mit dem Virus liegen.

Die Wissenscha­ft hat keine Macht. Sie ist nie allwissend. Sie liefert der mächtigen Politik Grundlagen für Entscheidu­ngen. Sie schließt keine Schulen, sie kann Politikern nur Entscheidu­ngshilfen anbieten. Sie rennt in viele Richtungen los und landet oft in Sackgassen. Sie kämpft in allen Studien mit Unzulängli­chkeiten und dem noch Unbekannte­n. Sie geht von Annahmen aus, die sich später als falsch herausstel­len können. Sie puzzelt aus unendlich viel kleinteili­ger Arbeit über einen Zeitraum von Jahren und Jahrzehnte­n ein großes Bild zusammen.

Und sie ist der einzige Weg, die Menschheit in den wesentlich­en Fragen voranzubri­ngen.

Sie hat es nicht verdient, so plump diskrediti­ert zu werden.

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