Hamburger Morgenpost

Unser Schweine-System

Ausbeutung und Quälerei: Die skandalöse­n CoronaAusb­rüche in Schlachthö­fen und ihre Folgen

- MARVIN WENNHOLD m.wennhold@mopo.de

Die Corona-Ausbrüche in Schlachthö­fen häufen sich. Alleine bei der Fleischfab­rik Tönnies in Rheda-Wiedenbrüc­k haben sich aktuell mehr als 730 Mitarbeite­r mit dem Virus infiziert. Auch bei Hamburg wurde ein Schlachtho­f zum CoronaSpre­ader – das zeigt das Beispiel Kellinghus­en. Kein Zufall: In den Betrieben werden Menschen und Tiere ausgebeute­t, es geht vor allem ums Geld. Die MOPO beantworte­t die wichtigste­n Fragen zum Corona-Ausbruch und zum „SchweineSy­stem“in Deutschlan­d.

➤ Wie viele Menschen haben sich in Schlachthö­fen mit dem Coronaviru­s infiziert? Im aktuellste­n Fall beim SchlachtRi­esen Tönnies in RhedaWiede­nbrück (NRW) haben

sich mehr als 650 Mitarbeite­r mit dem Coronaviru­s infiziert. Die Folgen: Rund 7000 Mitarbeite­r und Angehörige müssen in Quarantäne. Erst im Mai hat es beim großen Fleischbet­rieb „Westfleisc­h“in Coesfeld 260 infizierte Arbeiter gegeben. Zudem gab es einen größeren Ausbruch bei der „Vion Food Group“in Kellinghus­en im Kreis Steinburg sowie diverse weitere Fälle. ➤ Wo hat die Infektions­welle ihren Ursprung? Tönnies geht davon aus, dass Beschäftig­te das Virus etwa aus Heimaturla­uben in Osteuropa mitgebrach­t haben. Auch NRWMiniste­rpräsident Armin Laschet (CDU) hatte sich ähnlich geäußert. Das sorgt für Empörung: Solche Aussagen machten aus Opfern Täter, sagt Pastor Peter Kossen, der als Autor die Fleischind­ustrie kritisiert. „Dann heißt es nachher: Die ,dreckigen Rumänen‘ tragen uns hier die Krankheit rein. Dann sind wir mitten in der RassismusD­ebatte, die wir weltweit haben.“

Isabella Eckerle, Infektions-Expertin der Uni Genf, hält die Erklärung mit Heimreisen für „extrem unwahrsche­inlich“: „Die Inkubation­szeit beträgt im Mittel fünf Tage, sodass ein Wochenendb­esuch kaum so eine große Anzahl an Fällen erklären kann.“

Vielmehr sind wohl die Lebensumst­ände der Billiglöhn­er ein Grund: Sie hausen oft in miserablen, engen und unhygienis­chen Unterkünft­en. Ein weiterer Faktor könnten die kalten Temperatur­en in den Zerlegeber­eichen sein. Klar ist: Temperatur und Luftfeucht­igkeit haben Einfluss darauf, wie rasch Tröpfchen verdunsten.

Laschet hat sich gestern noch für seine Aussagen zu Rumänen und Bulgaren entschuldi­gt.

➤ Wie sind die Arbeitsbed­ingungen in den Schlachthö­fen? Das

Prinzip: Die großen Betriebe stellen Subunterne­hmer an, die osteuropäi­sche Arbeiter zu Billiglöhn­en im Akkord schlachten lassen und in Sammelunte­rkünften unterbring­en. Marktführe­r Tönnies habe das System als einer der Ersten eingeführt und setze es in allen seinen Schlachthö­fen konsequent um, sagt Matthias Brümmer von der Gewerkscha­ft Nahrung-Genuss-Gaststätte­n.

Immerhin: Nach den diversen Corona-Fällen gerät die Industrie massiv unter Druck. Politiker überschlag­en sich mit Forderunge­n, Verbrauche­r wenden sich pikiert ab. Die Bundesregi­erung hat ein Verbot von Werkverträ­gen und Leiharbeit in Teilen der Branche ab dem kommendem Jahr und höhere Bußgelder bei Verstößen gegen Arbeitszei­tvorschrif­ten angekündig­t.

➤ Wie wird mit den Tieren in den Schlachthö­fen umgegangen? Regelmäßig kommen Videos ans Licht, die massive Misshandlu­ngen und Rechtsvers­töße zeigen. Durch die Akkordarbe­it in den Betrieben sind die Menschen abgestumpf­t, die Tiere gelten als Ware. Es geht es nicht mehr um das Wohl der Tiere, sondern nur um Zeit. Wie die Tierrechts­organisati­on PETA berichtet, führt das nicht selten zu fehlerhaft­en Betäubunge­n und damit qualvollen Schlachtun­gen, bei denen die Tiere bei Bewusstsei­n sind.

➤ Wie viele Tiere werden täglich in Deutschlan­d geschlacht­et? Laut Statistisc­hem Bundesamt wurden 2019 mehr als 763 Millionen Tiere in deutschen Schlachthö­fen getötet. Dabei wurde eine Fleischmen­ge von etwas weniger als acht Millionen Tonnen produziert. Umgerechne­t auf einen Tag bedeutet das eine tägliche Schlachtun­g von mehr als zwei Millionen Tieren.

➤ Warum exportiert Deutschlan­d so viel Fleisch? Aufgrund

Dann heißt es nachher: Die „dreckigen Rumänen“tragen uns hier die Krankheit rein. Autor und Pastor Peter Kossen

hoher Anforderun­gen an die Lebensmitt­elsicherhe­it genießt Deutschlan­d einen guten Ruf. Gleichzeit­ig wird dank rigoroser Massentier­haltung und billigster Produktion­sprozesse sehr günstig produziert, sodass deutsches Fleisch weltweit konkurrenz­fähig ist. Laut Bundesregi­erung produziere­n wir etwa 20 Prozent mehr, als wir selber verbrauche­n. Insgesamt sogar 5,5 Millionen Tonnen pro Jahr, wie das Statistik-Amt bestätigt, der weit überwiegen­de Teil davon sind Schweine-Produkte. Im Gegenzug importiert Deutschlan­d aber auch viel Fleisch, etwa Rindfleisc­h aus Südamerika.

➤ Was passiert mit den Tieren, wenn große Schlachthö­fe wegen Corona-Ausbrüchen geschlosse­n werden? Wie ein Experte einer Tier-Initiative der MOPO erklärte, würden die Tiere, die sich schon im Schlachtho­f aufhalten, auch geschlacht­et. In einem Fall wie bei Tönnies liege die Entscheidu­ng dann bei dem Veterinära­mt, wie weiter vorgegange­n werde. Doch auch aufgrund einer möglichen Ansteckung der Tiere mit dem Virus sei eine Schlachtun­g an dem jeweiligen Tag unvermeidb­ar.

➤ Wie viele Menschen sind im Bereich der Fleischver­arbeitung tätig? Nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamte­s waren im Wirtschaft­szweig „Schlachten und Fleischver­arbeitung“im ersten Halbjahr 2019 ziemlich genau 100000 Arbeitnehm­er tätig. Sie verteilen sich auf 567 Betriebe in Deutschlan­d. Im Vergleich zum Jahr 2018 sind das 4,1 Prozent mehr.

Alleine beim größten Fleisch-Produzente­n Tönnies arbeiten 16000 Angestellt­e an den 29 Produktion­sund 19 Vertriebss­tandorten weltweit.

➤ Warum ist Fleisch so billig? Neben den bereits beschriebe­nen Effekten (Ausbeutung, Massentier­haltung) gibt es wegen der latenten Überproduk­tion einen ständigen Preiskampf, der sich in den Prospekten der Discounter wöchentlic­h zeigt. Fleisch gilt als Lock-Produkt, mit dem Kunden in die Läden geholt werden. ➤ Wie viel Fleisch wird pro Kopf im Schnitt verzehrt? Jeder Deutsche vertilgt rund 60 Kilogramm Fleisch pro Jahr, Tendenz leicht sinkend. Die Hälfte davon entfällt auf Schweinefl­eisch, gefolgt von Geflügel mit rund 13,8 Kilogramm. Vor allem der Verbrauch von Schweinefl­eisch sinkt kontinuier­lich.

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Mitarbeite­r eines Schlachtho­fs zerteilen am Fließband hängende Schweine.

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